Die Briten hadern mit dem besten aller Brexits

Der Brexit-Deal entspricht ziemlich genau dem, was sich dessen Befürworter einst gewünscht haben.
Der Brexit-Deal entspricht ziemlich genau dem, was sich dessen Befürworter einst gewünscht haben.APA/AFP/TOLGA AKMEN
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Der Deal, den die Europafeinde nun bekämpfen, entspricht ziemlich genau dem, was sie sich vor dem Brexit-Referendum gewünscht haben.

Theresa May ist eine bemerkenswerte Politikerin – und das unabhängig davon, ob sie die nächsten Tage an der Spitze der britischen Regierung unbeschadet übersteht oder doch noch gestürzt wird. Die Premierministerin hat mit den Brexit-Verhandlungen den undankbarsten Job im Vereinigten Königreich. Sie hat sich dazu bereit erklärt, im Namen aller Briten zwischen Pest und Cholera zu wählen und ihre Wahl anschließend als Paradies auf Erden zu vermarkten. Die einzige Anerkennung, die May für ihr Himmelfahrtskommando erwarten kann, ist von der Nachwelt. Dass der Hitzeschild der Regierungschefin den Wiedereintritt in die innenpolitische Atmosphäre überstehen kann, ist unwahrscheinlich. Spätestens nach dem EU-Austritt kann May nur noch auf historische Gerechtigkeit hoffen.

Diese Prognose hat insofern eine Berechtigung, als das EU-Austrittsabkommen, das am Dienstag provisorisch fixiert wurde, die Briten zwangsläufig enttäuschen muss – sowohl die Europafreunde, die auf ein spätes Wunder in der Form eines zweiten Brexit-Referendums gehofft haben, als auch die Europafeinde, für die nur ein klarer Bruch mit der verhassten EU infrage gekommen ist. Theoretisch müsste es zwischen diesen Randpositionen noch eine Mitte geben, der die Debatte über Großbritanniens Platz in Europa schnurzegal ist. Doch in der Praxis lässt der Veitstanz, den das politische Establishment des Königreichs seit 2016 vorführt, niemanden kalt. Der Brexit ist das alles bestimmende Thema dieser Generation.

Noch hat das rund 500 Seiten starke Abkommen das Licht der Öffentlichkeit nicht erblickt. Doch aus den bereits bekannt gewordenen Details lässt sich die paradoxe Schlussfolgerung ziehen, dass der Brexit-Deal ziemlich genau dem entspricht, was sich dessen Befürworter einst gewünscht haben – nämlich den Austritt aus der Union bei gleichzeitiger Beibehaltung eines Zugangs zum europäischen Binnenmarkt. Angesichts des Brexit-Breakdance der letzten zwei Jahre fällt es alles andere als leicht, sich daran zu erinnern, dass im Vorfeld des Referendums sowohl Boris Johnson als auch David Davis als auch Liam Fox lautstark verkündet haben, der Verbleib im EU-Binnenmarkt bzw. in der Zollunion sei das Beste, was Großbritannien passieren könne.

Dass die drei Weisen aus dem Brexit-Land heute jegliche Anspielungen an ihre Beteuerungen von gestern tunlichst vermeiden möchten, hängt einerseits mit dem innenpolitischen Klimawandel in Großbritannien zusammen, andererseits aber mit ihrem – formulieren wir es zuvorkommend – suboptimalen diplomatischen Geschick. Während die EU für den Verhandlungsgalopp die schnellsten Gäule aufgezäumt hat, haben die Briten ein Hutschpferd an die Startlinie geschoben. Die Kommission und die EU-27 wussten zu jedem Zeitpunkt, was sie wollen und wie sie es erreichen können. Die Brexit-Jockeys sind schon an der ersten dieser zwei Hürden hängen geblieben.

Mehr Freude mit dem Ergebnis haben daher die Europäer. Großbritannien bleibt – sofern die regierenden Tories nun über ihren Schatten springen – ein Trabant der Union. Die unfreiwillig enge Umlaufbahn macht deutlich, dass die EU-Mitgliedschaft Vorteile hat. Zugleich aber ist das Abkommen kein ökonomischer Strafvollzug. Großbritannien wird nicht zwangsläufig ärmer. Es wird nur deutlich weniger mitzureden haben als vor dem Austritt aus der EU.

Und die Briten selbst? Ist es der Brexit, den sie gewollt haben? Vermutlich nicht. Doch der Vollständigkeit halber muss man an dieser Stelle festhalten, dass die allermeisten Wähler den Beipackzettel des EU-Austritts gar nicht gelesen haben, bevor sie am 23. Juni 2016 ihr Kreuz gemacht haben. Kein Wunder: Das Kleingedruckte war ja auch deutlich weniger spaßig als die Aperçus von Boris Johnson. Insofern handelt es sich bei dem erzielten Ergebnis auch aus demokratiepolitischer Perspektive um den besten aller Brexits. Denn gemäß einem Diktum des US-Satirikers H. L. Mencken ist Demokratie das System, in dem mündige Bürger wissen, was sie wollen.

Und es im Anschluss an ihr Votum auch knüppeldick bekommen.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2018)

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