US-Grenzpolizei ist gerüstet für Ansturm der Migranten. Tijuana ruft humanitären Notstand aus.
Wien/Tijuana. Tag und Nacht kreisen Hubschrauber und Drohnen über dem betonierten Flussbett des Tijuana River und dem rostbraunen Grenzwall, der sich kilometerlang vom Strand bis zu den Hügeln am Horizont hinaufzieht und der zum Teil zusätzlich mit Stacheldrahtrollen gesichert ist. Am Strandabschnitt, wo eine Mauer meterweit in die Wogen des Pazifiks hineinragt, der die südkalifornische Grenzstadt San Ysidro mit der terrakottafarbenen Shoppingmall von der mexikanischen Millionenstadt Tijuana trennt, patrouillieren Beamte der US-Grenzpolizei mit Jetskis. Vereinzelt halten auch Polizisten hoch zu Ross die Stellung.
Ob an Land, zu Wasser oder in der Luft: Die Border Patrol ist gerüstet für den Showdown mit der „Invasion“ aus Zentralamerika, wie Donald Trump, ihr oberster Befehlshaber, die Flüchtlingsbewegung genannt hat. Nach sechs Wochen, 4000 Kilometern und zuletzt großteils in Bussen herangekarrt, hat die erste große Karawane ihren ersten Sehnsuchtsort erreicht: Tijuana, das mythenbeladene Einfallstor in die USA. Erst kürzlich hat sich Kirstjen Nielsen, die von Trump harsch kritisierte Heimatschutzministerin, ein Bild von der Lage gemacht.
Die Tränengasschwaden haben sich indessen verzogen, mit der US-Spezialeinheiten am Sonntag eine Vorhut der Migranten aus Mittelamerika vom Grenzposten El Chaparral vertrieben haben. „Wir sind keine Kriminellen, wir arbeiten hart“, hatten Hunderte Demonstranten skandiert, ehe sich ein paar Dutzend aus dem Protestzug lösten, um noch auf mexikanischer Seite demonstrativ auf eine Blechwand zu klettern. 98 Menschen seien in Haft und würden abgeschoben, sagte der Leiter der mexikanischen Migrationsbehörde, Gerardo Garcia Benavente, dem Fernsehsender Televisa am Montag.
„Geht nach Hause!“
Es waren Szenen, wie sie der US-Präsident im Wahlkampf für die Kongresswahlen vor wenigen Wochen heraufbeschworen hat, als er vom Einsatz des Militärs und einem nationalen Notstand schwadroniert hat. Nun fühlt er sich bestätigt. Nach der Rückkehr aus dem Thanksgiving-Urlaub aus seinem „Winter White House“ in Palm Beach im Florida twitterte Donald Trump in bewährter Manier los. „Geht nach Hause!“, hatte er sie in einer ersten Reaktion zur Umkehr aufgerufen.
Nach der vorübergehenden Schließung einer der meistfrequentierten Grenzen der Welt in Tijuana drohte er mit einer permanenten Abriegelung, was angesichts von Millionenverlusten allerdings zu einem Aufschrei der Wirtschaft im mexikanisch-kalifornischen Grenzgebiet führen würde. Täglich überqueren rund 100.000 Menschen die Grenze in Tijuana, jährlich verzeichnet die Grenzstation San Ysidro/El Chaparral fast 40 Millionen Grenzübertritte. Trump forderte Mexiko denn auch umgehend zur Abschiebung der Migranten auf – darunter „eiskalte Verbrecher“, wie er sagte. „Macht es mit dem Flugzeug, macht es mit dem Bus. Macht es, wie ihr wollt. Aber sie kommen nicht in die USA. Alle bleiben in Mexiko.“ Am besten, so Trump, sollte Mexiko die Karawane auf ihrem Weg in den Norden stoppen. Zugleich drängte er den Kongress in Washington, Finanzmittel für sein Lieblingsprojekt – die Fertigstellung der Mauer – bereitzustellen. Es ist wohl eine vergebliche Forderung, da die Demokraten die Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus umgedreht haben.
Der naive Traum vom Sehnsuchtsland
Obwohl ein US-Berufungsgericht einen Erlass des Präsidenten zur Verschärfung des Asylrechts zunächst aufgehoben hat, pocht Trump darauf, dass Asylwerber ihren Antrag bei einem offiziellen US-Grenzposten einreichen – was in Tijuana einen riesigen administrativen Rückstau auslösen würde. Die Immigranten und die mexikanischen Behörden stellen sich auf monatelange Wartezeiten ein. Mehr als 5000 Migranten harren derzeit bereits in Tijuana aus, notdürftig untergebracht im Benito-Juarez-Stadion, nur wenige Hundert Meter entfernt vom Traumland entfernt – und Tausende werden folgen.
Vielfach waren sie mit der naiven Vorstellung gekommen, dass sie von den USA womöglich durchgewinkt würden. Ihr Tenor: „Wir dachten, es sei einfacher.“ Viele von ihnen werden es auf eigene Faust oder mithilfe von „Kojoten“ (Schleppern) versuchen, die Grenze zu überwinden.
Vorerst sucht die Trump-Regierung in aller Hektik eine kurzfristige Lösung mit Mexikos neuer Regierung unter dem Linkspopulisten Andrés Manuel López Obrador, die am Samstag angelobt werden wird. Zum Einstand erwägt Obrador eine nachbarschaftliche Goodwill-Geste zur Beherbergung der Migranten. Doch in Tijuana steigt der Druck. Der Bürgermeister rief den humanitären Notstand aus, er richtete einen Appell an die UNO. Die Geduld vieler Einwohner, die unter dem Terror der Drogenkartelle ächzen, ist erschöpft. In einem Protestmarsch skandierten Hunderte Parolen, die ganz nach dem Geschmack des „Gringos“ Trump waren: „Mexiko zuerst“, „Nein zur Invasion“.
AUF EINEN BLICK
Karawane. Mitte Oktober hat sich die erste Karawane aus Mittelamerika mit Flüchtlingen aus Honduras, El Salvador und Guatemala auf den Weg gemacht, um Armut und Bandenkriminalität zu entfliehen. Inzwischen haben sich mehr als 5000 Migranten in die nordmexikanische Grenzstadt Tijuana durchgeschlagen, rund 2000 nach Mexicali – und Tausende sind noch unterwegs.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2018)