Italien

Matera: Höhlen, Blasmusik und Ideen für die Zukunft

Die Höhlen haben Matera berühmt gemacht. Die Sassi sind seit 1993 Unesco-Welterbe. Manche sind zu Schauzwecken geöffnet, manche als Hotel genutzt.
Die Höhlen haben Matera berühmt gemacht. Die Sassi sind seit 1993 Unesco-Welterbe. Manche sind zu Schauzwecken geöffnet, manche als Hotel genutzt.(c) imago/ZUMA Press (Cosimo Martemucci)
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Matera startet in Kürze in das Europäische Kulturhauptstadtjahr, das die Stadt nicht im Alleingang inszeniert. Die ganze Basilikata ist eingebunden. Und vieles, was seit Tausenden Jahren existiert, wird neu genutzt.

Wenn man schnell ist, geht sich es vielleicht noch aus: Am 19. Jänner feiert Matera offiziell und festlich die Eröffnung seines Europäischen Kulturhauptstadtstatus. Und ziemlich laut wohl auch. Nachdem man sich hier jahrzehntelang als „Schande Italiens“ fühlen musste, jedenfalls wenn es nach der Meinung der Restnation über die Höhlenbewohner aus dem Süden ging, werden dann unzählige Musikkapellen unüberhörbar in Matera einmarschieren. Erst einmal in die vier Viertel der neuen Stadt, in der man auf dem jeweiligen Hauptplatz mit den Einwohnern feiern, speisen und musizieren wird. Um danach bei Sonnenuntergang lautstark in die beiden Sassi – Barisano und Caveoso –, die historische Altstadt mit und in den einst so übel beleumundeten und heute „rehabilitierten“ Wohnhöhlen, um dort gemeinsam das neue Selbstbewusstsein zu demonstrieren.

Bereits 10.000 Jahre reicht die Besiedlung der Höhlen zurück. Bis ihr in den 1950er-Jahren (auch nachdem Carlo Levis Buch „Jesus kam nur bis Eboli“ 1944 erschienen war) ein Ende bereitet wurde: Die Bewohner der ins Gestein des Gravina-Tals eingeschnittenen Kavernen wurden in sozialen Wohnbau umgesiedelt. Nun sind die Höhlen in der Schlucht des Flusses das kulturhistorische Kapital der Stadt – und Ort für originelle bis ganz noble Quartiere beziehungsweise als Ausstellungsfläche.

Gemeinsam kreativ zu aktuellen Fragen

Natürlich haben sich die Materani kreative Unterstützung aus der Region geholt, Musiker werden aber nicht nur aus der ganzen Basilikata in die Gegend der Murgia ziehen, blasmusizierender Besuch wird aus ganz Europa erwartet. Irgendwie scheint man hier, ungeachtet der eigenen Erfahrung von Tausenden Jahren, ein bisschen weiter über den Tellerrand (oder besser: Kraterrand) hinauszublicken in der Lage sein. „Open Future“, eine offene Zukunft, ist eines der Themen jener Aktivitäten, die das Europäische Kulturhauptstadtjahr behandeln soll.

Ein anderer Slogan lautet „insieme“, gemeinsam, und genau so will man hier im ökonomisch eher nicht privilegierten Mezzogiorno die Herausforderungen angehen. Deshalb ist die Stadt zwar dem Titel nach, aber nicht de facto der Austragungsort von Matera 2019. Klar, auch wenn man sparsam wirtschaftet, wird eine Kommune das für ein solches Großprojekt notwendige Budget nicht aufbringen können, in materiell ärmeren Gesellschaften wie etwa jenen rund ums Mittelmeer – und übrigens auch am Balkan um das bulgarische Plovdiv – hat man darüber hinaus auch die Nachbarschaftshilfe nicht ganz vergessen.

Und so werden am 19. Jänner um 10 Uhr früh unter dem Motto „Open Sounds“ sieben Kapellen aus Lukanien, wie man die Region hier als Einheimischer nennt, zusammen mit sieben resteuropäischen den Tag in der Cava del Sole beginnen. Und gegen Ende gesellen sich jene von Matera und Plovdiv, der zweiten Europäischen Kulturhauptstadt heuer, dazu. Der alte Tuffsteinbruch vor der Stadt an der historischen Via Appia eignet sich dazu ganz ausgezeichnet, erstens wegen der Akustik, darüber hinaus ist er wohl der einzige Ort in Matera, an dem alle 60.000 Einwohner gleichzeitig Aufstellung nehmen können. Oder besser: könnten, „sono tantissimi“, es sind schon sehr viele Touristen, die wegen des Kulturhauptstadtjahrs heuer zu Besuch kommen, wie Enzo Montemurro stoßseufzend feststellt. Wie die meisten hier sieht der Betreiber eines Albergo Diffuso, (eines authentischen Quartiers) und Fremdenführer die Aufmerksamkeit als Gefahr und Chance zugleich, einerseits ist das wirtschaftliche Überleben der Stadt nun endgültig gesichert, andererseits will keiner hier einen Massentourismus wie drüben in Alberobello mit den zu billigen Souvenirläden verkommenen Trulli oder dem Overtourism in Venedig.

Ein Pass für alles, ganz demokratisch

Genau deshalb versucht man in Matera, wie Paolo Verri, Generaldirektor des Organisationskomitees stets betont, Touristen als Materani, Einheimische, auf Zeit zu sehen und sie möglichst auch von diesem Zugang zu überzeugen. „Der Tourismus muss sich grundlegend ändern, sonst verlieren die interessanten Orte genau jene Identität, deretwegen die Menschen kommen. Das wollen wir vermeiden, deshalb gibt es in Matera auch keine Eintrittskarten für einzelne Events, sondern nur den Passaporto Matera 2019.“ Das bedeutet: Um 19 Euro erhalten Besucher Zutritt zu allem und jedem, was im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs an Aktivitäten stattfinden wird, von Ausstellungen über Konzerte bis zu den diversen Festen, natürlich auch für die Eröffnungsfeier.

Diese geht um 11 Uhr mit „Open City“ weiter, mit Musik – nomen est omen – in der ganzen Stadt, mündet um halb fünf, wenn die prachtvollsten Gebäude kunstvoll beleuchtet werden, in „Open Lights“. Den Abschluss bildet die „Open Show“ auf dem großen Platz vor der Kirche San Pietro Caveoso, wo Staatspräsident Sergio Mattarella ziemlich sicher ein rot-weiß-grünes Band durchschneiden und Matera 2019 somit ganz offiziell eröffnen wird. Was – gute Nachricht für alle die es da nicht nach Lukanien geschafft haben – live im Fernsehen übertragen wird.

Danach gibt es natürlich, siamo in Italia, große Party, aber vor allem 48 Wochen Programm. Das steht unter fünf Themen: „Ancient Future“, „Continuity and Disruption“, „Reflections and Connections“, „Utopias and Dystopias“ sowie „Roots and Routes“ und behandelt so unterschiedliche Problemstellungen wie die jahrtausendealte Beschäftigung der Menschheit mit den Sternen, die ebenso lange Geschichte der Verbindungen, aber auch Auseinandersetzungen zwischen den Kontinenten – einem Thema, das in Süditalien evident vor der eigenen Haustür liegt. Man stellt die aktuelle westliche Lebensweise auf den Prüfstand, vergleicht diese mit der tendenziell eher langsameren im Süden und untersucht diesbezüglich überdies die Ursachen für die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen sich der Norden und der Süden Europas entwickeln. Wobei Langsamkeit auch seine Vorteile hat, insbesondere wenn es um die Herstellung von Lebensmitteln als Grundlage täglichen Strebens geht.

Archaische Architektur

In dieser Hinsicht kann Matera mit seinem eigenen Brot punkten, übrigens dem einzigen Italiens, das sich mit einer geschützten Herkunftsbezeichnung schmücken darf. Die zahlreichen Veranstaltungen zu diesem Thema kulminieren daher im Festival „La Terra del Pane“: Nach der Weizenernte wird 15 Tage lang im November das Mehl stauben, alte Öfen werden wieder angeheizt.

Eine spannende Auseinandersetzung mit Architektur und Lebensumständen vor und nach 1952 bietet die Ausstellungsschiene „Matera Alberga“, sechs Künstler stellen dabei in ebenso vielen Hotels aus. Im Idealfall muss man also nicht einmal seine Herberge verlassen, um eine Vernissage zu besuchen, am 16. März wäre dazu Gelegenheit, falls man in Daniele Kihlgrens traumhaftem Hotel Sextantio abgestiegen sind. Sollte man doch noch außer Haus wollen und vielleicht gar zu zweit unterwegs sein, bietet sich aber auch noch das Konzert „In...Canto d'Amore“ in der Chiesa Christo Re an. Oder vielleicht ein Ausflug nach Melfi, ans Meer nach Metaponto, ach, es gibt so viel zu tun und sehen in Lukanien, nichts wie hin.

Kulturtrip Matera

Europäische Kulturhauptstadt: Die Eintrittskarte zu sämtlichen Ausstellungen und Veranstaltungen kostet nur 19 Euro. Das umfangreiche Programm startet am 19. Jänner.
www.matera-basilicata2019.it

Unesco Welterbe wurden die Sassi, die Höhlensiedlungen in der Altstadt im Jahr 1993.

Quartiertipps: Originelle Unterkunft in den Höhlen beziehungsweise in einem alten Konvent: B&B Al Convento, www.bbalconvento.it
Exklusives Erlebnis in Daniele Kihlgrens cooler Adaption von Wohnhöhlen. Das Sextantio ist ein Vorzeigeprojekt, www.sextantio.it

Informationen:www.italia.it
www.basilicataturistica.it/de/matera-2019/ www.matera-basilicata2019.it
www.materaevents.it

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2019)

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