Vatikan: Erstmals stehen Missbrauchsopfer im Mittelpunkt

Tag zwei der Missbrauchskonferenz: Bischöfe diskutieren über die Einrichtung unabhängiger Meldestellen und wirkungsvollere juristische Strukturen. Die Kirchenoberen konfrontieren sich mit Leidensgeschichten.

Rom. Alberto Athié ist aus Mexiko nach Rom gekommen. Während einer Mahnwache vor der Engelsburg erzählt er seine Geschichte: Als Pfarrer erfuhr Athié von Missbrauchsfällen durch den Priester und Gründer der Kongregation der Legionäre Christi, Marcial Maciel. Er wollte handeln, schrieb Briefe an Kardinäle und Bischöfe – und erhielt keine Antwort. Desillusioniert legte Athié seine Kirchenämter nieder, trat 2003 sogar aus der Kirche aus. Maciel musste erst 2006 wegen zahlreicher Sexualstraftaten die Leitung des Ordens abgeben, zwei Jahre später starb er.

Jahrelange Vertuschung. Damit soll nun Schluss sein. Wie man innerhalb der Kirche richtig mit Fällen von sexuellem Missbrauch umgeht, war das Thema des zweiten Tages der Missbrauchskonferenz im Vatikan, an der die Vorsitzenden von 114 Bischofskonferenzen bis Sonntag teilnehmen.

Bischöfe müssten stärker in Verantwortung genommen werden, sagte der Chicagoer Kardinal Blase Cupich. Bei Vorwürfen gegen Würdenträger der Kirche brauche es „neue juristische Prozedere für die Anzeige und Ermittlung gegen sie“. Auch, wenn sie der Fahrlässigkeit in Verdachtsfällen beschuldigt würden. Er schlug außerdem die Einrichtung unabhängiger Meldestellen für Missbrauch vor, in denen auch Laien tätig sein sollen.

Kardinal Seán Patrick O'Malley, Erzbischof von Boston, erklärte, er sei froh, dass sich das Treffen auf die Opfer fokussiere. „Das ist der Punkt, wo die Kirchenoberen anfangen können, zu lernen“, so O'Malley, der dem Ornat des Bischofs die Kutte der Kapuziner vorzog. Er lobte auch die Aufgabe, die Papst Franziskus den Teilnehmern in seinem Einladungsschreiben Ende des Jahres stellte: Jeder sollte sich im Vorfeld der Konferenz mit Missbrauchsopfern treffen. „Viele Bischöfe hatten noch nie so eine Erfahrung gemacht“, sagte O'Malley. „Es ist wirklich eine, die das Leben verändert.“

 

Tränen beim Abendgebet

Zum ersten Mal scheinen in Rom tatsächlich die Opfer im Mittelpunkt zu stehen. Während der Zusammenkunft der Kirchenoberen werden Zeugenaussagen von Betroffenen eingespielt, per Audio und Video, es sollen auch – von der Öffentlichkeit abgeschirmt – Opfer beim Abendgebet anwesend sein. Viele berichten von Tränen in den Augen der Teilnehmer, als am Donnerstag eine Frau via Einspielung erzählt, dass sie über 13 Jahre von einem Priester missbraucht, dreimal schwanger wurde und er sie dreimal zur Abtreibung zwang. Verhütungsmittel lehnte der Geistliche ab.

Dutzende Missbrauchsopfer sind aus eigenem Antrieb nach Rom gekommen und verschaffen sich vor den Vatikanmauern mit Mahnwachen Gehör. Am Samstag ist eine Kundgebung auf der Piazza del Popolo in Rom geplant: der Marsch zur Nulltoleranz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2019)


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