Ein Komiker greift nach der Macht in Kiew

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Der Comedian Wolodymyr Selenskij gewann den ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen mit 30 Prozent klar. Amtsinhaber Petro Poroschenko rettete sich mit 16,7 Prozent in die Stichwahl am 21. April.

Tischtennistische, grüne Sitzsäcke und blinkende Bildschirme: Im Pressezentrum von Wolodymyr Selenskij herrschte am Sonntag demonstrative Lässigkeit – unterlegt von pumpender Housemusik. Mit Infotainment, bereitgestellten Weingläsern und Snacks ließ man das Ende des Wahltags herankommen. Laut der Auszählung von mehr als der Hälfte der Stimmen bekanntgab errang Selenskij 30,2 Prozent der Stimmen. Amtsinhaber Petro Poroschenko erreichte demnach 16,7 Prozent.

Die Stichwahl am 21. April wird also zwischen Poroschenko und Selenskij ausgefochten. Die Wahlbeteiligung lag bei 65 Prozent. Während in Transkarpatien die Wahlbeteiligung unter dem Durchschnitt lag (25 Prozent), war sie im Donezker und Luhansker Gebiet, nahe der Konfliktzone, überraschend hoch.

Selenskij trat sogleich vor seine Anhänger. „Dies ist der erste Schritt hin zu einem großen Sieg“, sagte er, der gemeinsam mit seiner Ehefrau Jelena die Bühne erklommen hatte und ihr zunächst einen Kuss gab. Er dankte allen, die „nicht aus Jux“ für ihn gestimmt hätten. „Es gibt viele Exit Polls, aber nur einen Präsidenten“, sagte Selenskij in Anspielung auf den Slogan seines Konkurrenten Poroschenko („Es gibt viele Kandidaten, aber nur einen Präsidenten“). Julia Timoschenko, die laut ersten Auszählungsergebnissen 14 Prozent Wählerstimmen erhielt, hat damit offenbar zum dritten Mal ihr Ziel verfehlt, Präsidentin der Ukraine zu werden.

Poroschenko wirkte alt

Das gute Abschneiden des politisch unerfahrenen Comedian und Filmproduzenten ist mit der allgemeinen Desillusionierung nach fünf Jahren Amtszeit von Petro Poroschenko erklärbar. Viele sind mit dem Staatschef unzufrieden, der nur einen Bruchteil seiner Versprechen von 2014 wahr gemacht hat. Poroschenko, der sich damals als dynamischer Unternehmer präsentierte, gilt mittlerweile als Repräsentant der alten, postsowjetischen Elite und Oligarch, der mit Süßwaren und Rüstungsgeschäften Geld gemacht hat. Das war er freilich vorher auch schon.

Komplett offen ist, wer die Stichwahl gewinnen wird. Der Sieg hängt unter anderem von den Wahlempfehlungen der restlichen 37 Kandidaten ab und von der allgemeinen Wählermobilisierung. Auch mediale Skandale, die sich schon in den letzten Wochen gehäuft hatten, können die Wählermeinung in den nächsten drei Wochen noch beeinflussen.
Der Wahltag verlief relativ ruhig. Alle Wahllokale, auch im Konfliktgebiet im Osten des Landes, wurden geöffnet. Knapp 30 Millionen Bürger waren wahlberechtigt.

Hinter Poroschenko stehen große Teile der Armee und der öffentlichen Verwaltung. Gleichzeitig konnte der Präsident Stabilität und Sicherheit in unruhigen Zeiten vermitteln. Seinen Anhängern erschien der Novize Selenskij zu riskant. Oder wie die Kiewerin Ljudmila Trofimowa nach der Stimmabgabe erklärte: „Wenn jemand Neuer kommt, will er alles wieder neu erfinden.“ Poroschenko, dessen Image zuletzt durch Korruptionsskandale schwer angekratzt war, habe „viel erreicht“, erklärte die Pensionistin und zählte ihre Argumente auf: visumsfreie Einreise für Ukrainer in der EU, die Unabhängigkeit der ukrainischen orthodoxen Kirche und eine effizientere Bürokratie. Den klaren proeuropäischen Weg des Landes unterstütze sie. „Die Hilfe Europas ist wichtig für uns.“

Die weitere Annäherung des Landes an Europa stellte keiner der drei Favoriten in Frage. Sowohl Poroschenko als auch seine Herausforderer Selenskij und Julia Timoschenko sehen die Zukunft des Landes in einer Annäherung an die EU – und die Nato. In ihrem prowestlichen Kurs unterscheiden sie sich in Nuancen.

Stand bei früheren Präsidentenwahlen in dem osteuropäischen Land der prowestlichen Orientierung stets ein starkes Russland-freundliches Lager gegenüber, sind diese Kandidaten in dem aktuellen Wahlgang auf die hinteren Plätze gerutscht. Dies ist ein Ausdruck der Veränderungen, die sich in den vergangenen fünf Jahren infolge des Maidan und der nachfolgenden Konflikte mit Moskau ereignet haben. Kurz gesagt: Mit einem dezidiert prorussischen Programm sind heute in der Ukraine keine Wahlen mehr zu gewinnen. Die Annexion der Krim durch den Kreml und der andauernde Krieg im Donbass haben die Bürger zusammengeschweißt und das Nationalbewusstsein gestärkt. Und: Die in diesen Gebieten traditionelle prorussische Wählerschaft ist großteils abhanden gekommen.

„Ich glaube an ihn“

Selenskij setzt etwas andere Akzente als sein Konkurrent Poroschenko. Er gibt sich in Sachen Russland gemäßigter, spricht in Interviews vorwiegend auf Russisch und hoffte im Wahlkampf auf ein klärendes Vier-Augen-Gespräch mit Wladimir Putin.

Vor dem Wahllokal Nummer 800392 im Kiewer Plattenbaubezirk Darniza gab sich der 21-jährige Dima Olegowitsch als Anhänger des „neuen Gesichts“ zu erkennen. Selenskijs Auftritte und sein bisheriger erfolgreicher Lebenslauf hätten ihn überzeugt. „Ich glaube an ihn“, sagte der junge Mann mit dem tätowierten rechten Arm. Wobei, gewisse Zweifel würden bleiben, gesteht der 21-Jährige: Selenskij sei eben unerfahren.

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