Der Mord an CDU-Politiker Lübcke verunsichert die Republik: Die rechtsextreme Gefahr wird größer – und weniger sichtbar.
Berlin. 24.100 Rechtsextreme gibt es in Deutschland. Mehr als die Hälfte von ihnen, nämlich 12.700, werden vom Verfassungsschutz als „gewaltorientiert“ eingestuft. Das sind viel zu viele, um sie alle ständig auf dem Radar zu haben. Um rechtzeitig herauszufinden, wer wann „kippt“, also von der latenten zur konkreten Gefahr wird, dazu brauche es schon „glückliche Umstände“, sagt Stephan Kramer im ZDF. Kramer muss es wissen. Er ist Verfassungsschutzchef in Thüringen, einem ostdeutschen Bundesland.
Der Tod des Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) in Kassel, Hessen, hat eine tiefe Verunsicherung in der deutschen Politik ausgelöst, vor allem in den Rathäusern und Regionalverwaltungen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt ist ein Politiker aus einem mutmaßlich rechtsextremen Motiv ermordet worden.
Tötungsversuche gab es schon davor. Kölns nunmehrige Oberbürgermeisterin, Henriette Reker, überlebte 2015 ein Attentat nur mit Glück. Bis heute wird sie bedroht – so wie andere Amtsträger auch. Der Staat könne nicht jeden Politiker schützen, sagt Kramer. Dazu reichten die Ressourcen schlicht nicht.
Die rechtsextreme Gefahr ist größer geworden – und weniger sichtbar. Neonazis tauchen im anonymen Teil des Internets ab, im Darknet. Sie tauschen sich in verschlüsselten Chatgruppen aus. Es gibt kaum Hierarchie, stattdessen viele kleine lose Netzwerke. Der Verfassungsschutz konstatiert eine neue rechtsextreme Dynamik und verlangt mehr Handhabe in nicht öffentlichen Bereichen des Internets. Sonst sei er dort blind.
Stephan E., Tatverdächtige im Fall Lübcke, war kein Unbekannter. 1993 misslang ihm ein Anschlag auf ein Flüchtlingsheim. Bis zuletzt soll er sich im Umfeld der „Combat 18“-Neonazi-Gruppe bewegt haben; die Zahl 18 steht für die Initialen von Adolf Hitler. Das Neonazi-Netzwerk hatte Verbindungen zur NSU-Terrorzelle, die bis 2007 zehn Menschen ermordete.
Noch vor dem Fall Lübcke sagte Armin Schuster, Chef des Geheimdienstausschusses (CDU): „In Deutschland hat sich etwas verschoben. Deshalb mache ich mir Sorgen. Ist es nicht leichter, dass ein NSU 2.0 entsteht, als damals?“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2019)