Der allseits geschätzte Präsidentschaftskandidat von SPD und Grünen könnte der Regierung ein knappes Resultat bescheren. Der große Wurf ist Kanzlerin Merkel mit der Nominierung Wulffs nicht gelungen.
Berlin.„Ich bin Realist, ich kann auch zählen.“ Joachim Gauck (70), Kandidat von SPD und Grünen für das Amt des deutschen Bundespräsidenten, weiß, dass er – rein rechnerisch – kaum Chancen hat, gewählt zu werden. In der Bundesversammlung verfügen Union und FDP, die ihrerseits den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff aufgestellt haben, über 20 Stimmen mehr als die notwendige absolute Mehrheit. Aber ganz ohne Hoffnung ist der ehemalige DDR-Bürgerrechtler, frühere Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde und protestantische Pastor nicht: „Ich habe in meinem Leben immer wieder erlebt, dass etwas Unerwartetes passieren kann.“
Unmut in der FDP
Das „Unerwartete“ würde eintreten, wenn Gauck genügend Stimmen aus dem Regierungslager gewinnen könnte. Dies ist zwar höchst unwahrscheinlich, dennoch macht die Kandidatur Gaucks den Präsidentenwahlkampf spannend. Zumal es in der FDP großen Unmut über die Ernennung Wulffs und durchaus Sympathien für Gauck gibt.
Es gebe „keinen Blankoscheck“ für den Kandidaten der schwarz-gelben Koalition, warnte bereits der sächsische FDP-Landschef Holger Zastrow. Auch andere Landespolitiker der Liberalen äußerten Bedenken gegenüber Wulff und zeigten sich verärgert darüber, dass Parteichef Guido Westerwelle die Landesverbände nicht in die Entscheidung mit einbezogen habe. Die FDP sei bei der Kandidatenkür als eigenständige Partei nicht sichtbar geworden, von Anfang an seien „nur CDU-Parteisoldaten“ zur Wahl gestanden, so die Kritik aus den Ländern.
Sowohl CDU- als auch FDP-Politiker fragen, warum die Regierung nicht von sich aus auf die Idee gekommen sei, den parteilosen Gauck aufzustellen. Der hat nach eigenen Angaben „sehr gute Beziehungen“ zu Union und FDP, wird von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geschätzt und hat sich selbst „fast gewundert“, dass er von Rot-Grün nominiert wurde. Im christdemokratisch-liberalen Regierungslager will Gauck jedenfalls offensiv um Stimmen werben.
So geht denn auch Wulff (CDU) trotz der schwarz-gelben Mehrheit in der Bundesversammlung nicht von einem sicheren Sieg bei der Wahl aus. „Es kommt auf die Geschlossenheit von CDU, CSU und FDP an“, sagte Wulff der „Bild am Sonntag“. Sicher werde er erst sein können, „wenn die Mehrheit verkündet ist“. Ginge es nach der deutschen Bevölkerung, wären laut einer Umfrage 41 Prozent für Wulff, 32 Prozent für Gauck.
Brüskierung von der Leyens
Mit der Nominierung des weithin akzeptierten Ex-Bürgerrechtlers ist SPD und Grünen jedenfalls ein Coup gelungen, während die umstrittene Kür Wulffs nicht der große Wurf ist, den Merkel gebraucht hätte. Die Personalentscheidung trägt auch einen „Schönheitsfehler“, über den in Berlin seit Tagen heftig spekuliert wird: Warum kam letztlich doch nicht Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zum Zug, die zunächst als Favoritin gegolten hatte, vom Kanzleramt unwidersprochen?
War es bloß voreiliger Medien-Hype, scheiterte Merkel am Widerstand konservativer Landesfürsten, oder hat die Kanzlerin die Arbeitsministerin brutal auflaufen lassen? Laut der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ wurde von der Leyen nicht informiert, obwohl die Entscheidung für Wulff längst gefallen war. Wie auch immer die Kandidaten-Kür gelaufen ist: Ein besonders glückliches Händchen hat die Bundeskanzlerin dabei nicht bewiesen. Leitartikel Seite 27
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2010)