Machtkomplex in Berlin

Angela Merkel imitiert die Personalpolitik ihres Ziehvaters Helmut Kohl, lässt aber dessen Visionen vermissen.

Es sind oft die Kleinigkeiten, die einen Hinweis auf die wahren machtpolitischen Untiefen eines Politikers geben. Etwa die Art und Weise, wie sie mit Verbündeten umgehen, sie bewusst falsch oder verspätet informieren. Wie sie ganz normale, aber notwendige Höflichkeiten aus ihrem Handeln tilgen. Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in den letzten Wochen viel Zeit und Energie für ihre Personalpolitik aufgewendet. Sie hatte dabei augenscheinlich weit mehr ihre eigene Machtposition im Auge als den notwendigen Zusammenhalt in der Partei und in der Koalition. Wie sonst hätte sie den Fauxpas begehen können, einen ihrer stärksten Minister, Ursula von der Leyen, derart zu brüskieren. Die Arbeitsministerin war als aussichtsreiche Kandidatin für die Nachfolge von Horst Köhler als Bundespräsidentin im Gespräch – und Merkel informierte sie nicht, dass sich die Koalitionsspitze längst auf den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff geeinigt hatte.

Es hätte nur eines Anrufs bedurft, um den Zusammenhalt im Kabinettsteam abzusichern. Aber Merkel agiert mittlerweile anders. Sie sah die Chance, mit der Kandidatur von Wulff nach dem Rückzug ihres Rivalen Roland Koch den letzten großen Widersacher in der Partei wegzuloben. Obwohl sich gegen Wulff beim Koalitionspartner FDP von Beginn an Widerstand einstellte, drückte sie die Entscheidung durch. Ein Blick über Parteigrenzen hinweg, dorthin, wo sie vielleicht mit dem unparteiischen Joachim Gauck eine perfekte Lösung gefunden hätte, riskierte sie gar nicht. Dass nun sowohl in der FDP als auch in der CDU Stimmen laut werden, die behaupten, der von Grünen und SPD nominierte Gauck sei vielleicht die bessere Wahl, ist eine Folge dieser Ignoranz.

Angela Merkel hat viel von ihrem politischen Ziehvater Helmut Kohl gelernt. Sie agiert sehr ähnlich, behauptet der renommierte deutsche Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld. Der ehemalige Berater des langjährigen CDU-Kanzlers weiß, wovon er spricht. Er hat nicht nur Kohls Höhenflüge erlebt, sondern auch dessen menschliche Tiefen. Etwa, wie er mit seinem intelligentesten und loyalsten Partner umging, mit Wolfgang Schäuble.

Doch während Kohl immer noch flexibel handeln konnte, eine europäische Vision verfolgte, für die er seine erkämpfte Machtbasis einsetzte, lässt Merkel derartigen ideellen Antrieb vermissen. Die deutsche Kanzlerin operiert in der Europapolitik so wie daheim. Sie setzt auf taktische Spiele, sucht und findet ihren Widerpart im französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy. Doch mehr ist da nicht.

Merkel dominiert in der Europäischen Union zwar durch ihren mächtigen Einfluss, nicht jedoch durch ideenreiches Handeln. In der Griechenland-Krise zögerte sie aus innenpolitischem Kalkül mit der notwendigen Entscheidung. Statt der griechischen Führung rechtzeitig entweder eine klare Abfuhr zu erteilen oder ihr rasch unter die Arme zu greifen, stieß die deutsche Kanzlerin nicht nur Athen, sondern auch ihre wichtigen europäischen Partner vor den Kopf. Das Warten auf Berlin kostete die EU-Staaten schließlich Milliarden.

Merkel verkennt, dass es sowohl in der deutschen Innenpolitik als auch im europäischen Krisenmanagement derzeit vor allem um inhaltliche Fragen geht. Sie könnte zumindest bei einem Teil ihrer EU-Verbündeten auf Sympathien für einen auf Sparen angelegten Sanierungskurs stoßen. Doch sie müsste diese Ideen argumentieren, die Konflikte mit jenen austragen, die gerade jetzt auf zusätzliche Ausgaben setzen.


Angela Merkel hat sich von einer erfrischenden Pragmatikerin zu einer verbissenen Machtpolitikerin gewandelt. Sie macht die gleichen Fehler wie einst Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in Österreich, der sich irgendwann mit seinen taktischen Manövern selbst überdribbelt hat.

Ja, es sind die Kleinigkeiten, die einen Hinweis auf die wahren machtpolitischen Untiefen eines Politikers geben. Angela Merkel hat es sich früher leisten können, so manche Selbstzweifel auch öffentlich anzudeuten. Heute wirkt sie in ihrer Machtrolle abgehoben und kühl. Sie trägt keinen ihrer Konflikte direkt aus, sondern stets über die Bande.

Das Schlimmste aber ist, dass einer der wichtigsten europäischen Politiker seine Energien derzeit fast ausschließlich für seine eigene politische Zukunft einsetzt. Merkel verkennt ihre riesige Verantwortung, in der es nicht um das Ziel einer gemütlichen Machtbasis, sondern um hochbrisante Fragen der Zukunft und des Wohlstands geht.

Die Chancen von Gauck Seite 3

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2010)

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