Migrationskrise

Auf der Flucht: Was die EU seit 2015 gelernt hat

Krieg, Unterdrückung, Elend: Allein im Jahr 2015 flüchteten mehr als eine Million Menschen Richtung Europa. Mit den Folgen kämpfen die EU und die Mitgliedstaaten bis heute. 
Krieg, Unterdrückung, Elend: Allein im Jahr 2015 flüchteten mehr als eine Million Menschen Richtung Europa. Mit den Folgen kämpfen die EU und die Mitgliedstaaten bis heute. (c) APA/AFP/ARMEND NIMANI
  • Drucken

Vor fünf Jahren wurde Europa von der Flüchtlingskrise überrascht. Inzwischen wurden Maßnahmen gesetzt. Am gemeinsamen Asylsystem mangelt es noch.

Wien. Die Bilder von diesem Sommer 2015 werden uns noch Jahre begleiten. Hunderttausende Flüchtlinge bewegten sich von der Türkei und Griechenland über die Balkanroute in Richtung Mittel- und Westeuropa. In kleinen und großen Gruppen, zu Fuß, per Zug, mit Bussen oder  Schlepper-Autos zogen Kinder, Frauen, Männer gen Westen. Grenzen waren kein Hindernis. Rund 1,3 Millionen Asylwerber sollten es in diesem Jahr sein, so die spätere Bilanz. Syrer, Iraker, Afghanen stellten das Hauptkontingent, aber auch illegale Migranten aus anderen Ländern schlossen sich dem Treck an.

Europa erlebte 2015 die massivste Migrationswelle seit dem Zweiten Weltkrieg. In den europäischen Hauptstädten gab man sich überrascht angesichts dieses Ansturms. Dabei war die Krise absehbar, es gab viele brauchbare Hinweise, dass sich im nahöstlichen Krisenbogen einiges zusammenbraute: In Syrien wurde der Krieg immer brutaler, die Nachbarländer konnten die Last von Millionen Flüchtlingen nicht mehr tragen; in der Türkei drehte sich die Stimmung in der Bevölkerung gegen die ungebetenen Gäste. Im Irak wiederum machte sich der Islamische Staat immer mehr breit – wer konnte, flüchtete. Und in Afghanistan wüteten die radikalen Taliban.

Von den Ereignissen überrollt

Auch Brüssel war trotz dieser Vorzeichen noch nicht im Alarmmodus. Doch nach dem tragischen Bootsunglück vor Libyens Küste, bei dem mehr als 800 Flüchtlinge ertranken, einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU zumindest einmal auf ein Paket, das u.a. mehr Präsenz auf See und Kampf den Schleppern vorsah. Wenig später verabschiedete die EU-Kommission eine ambitionierte Migrationsagenda und der Rat beschloss Ende Juni eine Reihe von Maßnahmen sowie eine freiwillige Verteilung von 40.000 Flüchtlingen. Eine verpflichtende Flüchtlingsquote konnte damals nicht durchgesetzt werden. Dies taten erst die EU-Innenminister am 22. September 2015, die mit einem Mehrheitsbeschluss die Umverteilung von 120.000 Asylwerbern durchsetzten – und damit die Visegrád-Staaten überstimmten.

Die großen Flüchtlingsmassen kamen im Juli, August, September – und die EU-Prinzipien gerieten unter die Räder: So wurde mit dem Überrollen der Außengrenzen sichtbar gemacht, wie schlecht sie eigentlich geschützt waren. Indem nur mehr oberflächliche Registrierungen der Migranten vorgenommen und viele einfach weitergewinkt wurden, ist das Dublin-Abkommen de facto außer Kraft gesetzt worden. Und auch das Schengen-Abkommen war bald Makulatur, da mehrere Staaten ab September 2015 ihre Grenzen dicht machten.

Doch aus der Migrationskrise 2015 hat die EU auch gelernt und – soweit es die Mitgliedstaaten zuließen – Maßnahmen gesetzt. Eine Auswahl: Um die Flüchtlinge an den Außengrenzen besser registrieren zu können, wurden in den beiden hauptsächlich betroffenen Ländern Italien und Griechenland Hotspots definiert, wohin die EU dann Unterstützungsteams schickte. Mit den Staaten entlang der Westbalkan-Route wurden im Herbst 2015 Vereinbarungen geschlossen, um die Migrationsströme zu steuern und damit de facto zu schließen.

Sodann wurden Verhandlungen mit Ankara aufgenommen, die im März 2016 im EU-Türkei-Abkommen mündeten. Dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan diesen Deal auch als Druckmittel gegen die EU verwenden kann und will, zeigte sich heuer Ende Februar, als er Flüchtlinge an die griechische Grenze schickte. Der Ansturm wurde abgewehrt, die Bedrohung bleibt. Bei aller Problematik: Das Abkommen half, dass die Flüchtlingszahlen massiv zurückgegangen sind.

Mitte 2016 einigten sich die EU-Mitgliedstaaten auf die Schaffung einer „Europäischen Grenz- und Küstenwache (Frontex), die mithilft, die Außengrenzen zu kontrollieren. 2019 wurde das Mandat der Agentur ausgeweitet und eine ständige Reserve von 10.000 Grenzschutzbeamten beschlossen. 2017 wurde schließlich die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache deutlich verstärkt. Eine Vereinbarung, die angesichts vieler Menschenrechtsverletzungen in Libyen heftig kritisiert wurde.

Augenmerk auf Herkunftsländer

Neben dem aktiven Außenschutz hat die EU seit 2015 auch bedeutende Geldmittel für jene Länder in der Nahost-Region zur Verfügung gestellt, die sich um Flüchtlinge kümmern, wie etwa Libanon oder Jordanien. Zunehmend wurde das Augenmerk verstärkt auf finanzielle Hilfe für Herkunftsländer von Migranten in Afrika gelegt.

Keine Frage: Seit dem Sommer 2015 ist in der EU einiges erreicht worden, um heute besser mit dem Thema Migration umzugehen. Doch trotz zahlreicher Vorschläge und Debatten fehlt immer noch ein gemeinsamer Ansatz für ein reformiertes Asylsystem, Vor allem das Quotensystem wird weiter ein Zankapfel sein.

23.04.2015

03.06.2015

27.08.2015

04.09.2015

18.03.2016

06.10.2016

03.02.2017

Chronologie

Nach schweren Bootsunglücken, die Hunderte Flüchtlinge das Leben kosten, beschließt die EU einen Kampf gegen Schlepper und stärkere Überwachung vor der Küste Libyens.

Die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge hat sich seit Jahresanfang um 500 Prozent erhöht. Die Mehrheit kommt aus Syrien.

Im Burgenland werden in einem an der Autobahn abgestellten Kühlwagen die Leichen von 71 Flüchtlingen gefunden.

Tausende Flüchtlinge ziehen von Budapest zur österreichischen Grenze bzw. werden mit Bussen dorthin gebracht. Sonderzüge bringen sie weiter nach Wien. Der Großteil will nach Deutschland weiterreisen.

Die 28 EU-Staaten schließen einen Flüchtlingspakt mit der Türkei ab.

Zur Sicherung der Außengrenzen nimmt die EU-Agentur Frontex ihre Arbeit auf.

Die Staats- und Regierungschefs beschließen, die Zusammenarbeit mit Libyen zu verstärken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2020)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Auf den letzten Metern von Merkels Kanzlerschaft wartet die „größte Bewährungsprobe“.
Deutschland

Angela Merkels Endspiel vor leeren Rängen

Die Covid-19-Krise durchkreuzt die Pläne für die EU-Ratspräsidentschaft und drängt sich in den Mittelpunkt. Für die Kanzlerin steht im zweiten Halbjahr viel auf dem Spiel. Wohl auch ihr Vermächtnis für Europa.
Keine Touristen, nur vereinzelt Menschen mit Gesichtsmaske: Das Kolosseum in Rom während der Coronakrise.
Coronakrise

Als ein Virus zur Existenzfrage für die EU wurde

Mangelnde Solidarität und nationale Egoismen prägten den Beginn der Pandemie. Die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns sind verheerend.
Bundeskanzler Sebastian Kurz nahm bereits an vier EU-Gipfeln per Videoschaltung teil.
Krisenkonferenz

Ohne Menscheln keine Kompromisse

Der Mangel an persönlichem Kontakt steht der Lösung der größten Probleme Europas entgegen.
Krisenfeuerwehr

Krisenfeuerwehr

Mario Draghi.
Eurokrise

Auf der ewigen Baustelle ist der Bauschluss noch immer nicht in Sicht

Die Frage, ob die Währungsunion auch eine gemeinsame Fiskalpolitik braucht, beschäftigt die EU seit einem Jahrzehnt. Durch Corona wird sie wieder akut.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.