Unser Umgang mit Essen wandelt sich dramatisch. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einem Niedergang der Esskultur.
Die Gegenwart ist historisch gesehen einzigartig: Niemals zuvor war in der europäischen Geschichte die Ernährungslage so gut. Noch vor 50 Jahren gab es weit verbreitet Hunger, die Folge waren Leid und Mangelerscheinungen mit dramatischen gesundheitlichen Auswirkungen. Seit einigen Jahrzehnten schwelgen wir dagegen in unglaublichem Überfluss (mit erneut schweren Konsequenzen).
Gleichzeitig hat sich unsere Einstellung zum Essen dramatisch gewandelt. Zum Beispiel unser Zugang zum Kochen – immerhin die älteste Kulturtechnik der Menschheit. Wie die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler und der Kulturwissenschaftler, Dramaturg und Publizist Wolfgang Reiter in „Food Change“ am Beispiel einer Pizza ausführen, bedeutet „Kochen“ nur mehr für über 50-Jährige die eigenhändige Zubereitung von Teig und Belag. Für 30- bis 40-Jährige dagegen bedeutet „Pizza-Kochen“ das Belegen und Backen eines Fertigteigs. Und Unter30-Jährige meinen mit „Kochen“ schlicht das Erhitzen einer Tiefkühlpizza. Quer über alle Altersgruppen hinweg verstehen nur mehr 18 Prozent der Mitteleuropäer unter Kochen einen autonomen Prozess, bei dem alles selbst von den Grundzutaten weg zubereitet wird.
Man könnte angesichts solcher Fakten einen Niedergang der Esskultur beklagen. Die Autoren tun das nicht. „Die kulturpessimistische Sichtweise wird der Realität in vielen heimischen Küchen nicht gerecht“, schreiben sie. Denn modernes „Convenience Food“ – also Fertigmenüs aus dem Kühlschrank oder der Tiefkühltruhe – führe eher zu einer Qualitätssteigerung und zu einer wachsenden Vielfalt – und zu einer ausgewogeneren Ernährung.
Diese ungewöhnliche Sichtweise ist nur eine von vielen Einsichten, zu denen Rützler und Reiter kommen. Sie haben, basierend auf einer imposanten Fülle an Fakten, sieben Leitideen für eine neue Esskultur entwickelt: von globalisierter Ernährung über den gleichzeitigen Trend zu Regionalität bis hin zu Qualitätsdenken und „Food Design“. Die Tatsachen, die in den Argumentationen auftauchen, sind immer wieder verblüffend: Wussten Sie, dass die Ernährung für 31,3 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich ist? Zum Vergleich: Der Beitrag von Wohnen und Heizen zur globalen Erwärmung liegt bei 23,6 Prozent, der des viel gescholtenen Verkehrs bei 18,5 Prozent.
Die entwickelten Leitideen sind, so betonen Rützler und Reiter gleich in der Einleitung, durchaus subjektiv gefärbt – denn sie sollen einen Weg in eine bessere Zukunft weisen. Man muss den Autoren daher nicht in allen Analysen und Szenarien folgen. Doch bedenkenswert sind sie allemal.
Hanni Rützler, Wolfgang Reiter: Food Change. 7Leitideen für eine neue Esskultur. 170 Seiten, 19,95 Euro (Hubert Krenn VerlagsgesmbH)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2010)