Die Religionen hatten in der Schlussphase der – gar nicht so katholischen – Monarchie eine entscheidende Bedeutung.
Der Anteil an Katholiken geht in Österreich stetig zurück. Im Jahr 2009 waren 66 Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglieder. Angesichts des Sinkflugs sehnt sich so mancher Kleriker wohl in Zeiten der Monarchie zurück – als Österreich noch die „katholische Großmacht Europas“ war. Wie war das damals? Im Jahr 1910 lag der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung bei – 66 Prozent.
Da staunt der Laie. Doch es ist plausibel: Das Habsburgerreich war nicht nur ein Vielvölkerstaat, sondern auch ein multikonfessionelles Land: Fast jeder fünfte Bürger war orthodox, jeder elfte Protestant. Dazu kamen gut vier Prozent Juden und 1,2 Prozent Muslime. Der Staat unternahm damals nichts, um den Anteil der Katholiken zu heben – die Gegenreformation war im 19. Jahrhundert Geschichte. Im Gegenteil: Der Herrscher von Gottesgnaden förderte alle Glaubensgemeinschaften.
„Die Donaumonarchie hat offenkundig mehr als andere Großmächte auf die ,religiöse Karte‘ gesetzt“, schreibt der Kirchenhistoriker Rupert Klieber in seinem kürzlich erschienenen Buch „Jüdische, christliche, muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie“. Das politische Ziel war klar: Die Konfessionen sollten durch die gezielte Förderung zu Stützen der Gesellschaft, des einheitlichen Staates werden. Das ist zum Teil gelungen: Die „Religionsdiener“ aller Arten hätten gegenüber dem Staat eine höhere Loyalität gezeigt als die Intelligenzija der jeweiligen Volksgruppen. Meist ließen sich auch die Konfessionen nicht von Nationalismen vereinnahmen.
Klieber interessiert in seiner Studie weniger die „offizielle“ Geschichtsschreibung, sondern vielmehr die Alltagsgeschichte – wie die Menschen gelebt haben und wodurch ihr Leben bestimmt war. Und da stand die Religion an erster Stelle. Was in Zeiten, in denen nur die Hälfte aller Kinder das fünfte Lebensjahr erreichte, auch wenig verwundert. Der Forscher hat Dutzende Beispiele dafür ausgegraben, Geschichten über Schulbücher, über Eheleute, über Beichtzettel, über heilkundige Weiber – die alle beweisen, wie sehr die Religion die Lebenswelt beeinflusst hatte.
Die Multikonfessionalität machte freilich auch Probleme. So gab es etwa in gemischt katholisch-orthodoxen Gebieten (wegen der unterschiedlichen Kalender) de facto eine doppelt so hohe Zahl an Feiertagen. Die strengen Heiratsvorschriften der meisten Konfessionen verursachten viel Leid, auf der Strecke blieben viele enttäuschte Liebende. Und nach der Kriegserklärung Österreichs an Serbien war es mit dem friedlichen Zusammenleben schnell vorbei: Hunderte orthodoxe Priester und Lehrer wurden inhaftiert, manche auch exekutiert.
Rupert Klieber: Jüdische, christliche, muslimische
Lebenswelten der Donaumonarchie 1848–1918.
294 Seiten, 35 Euro (Böhlau Verlag)
martin.kugler@diepresse.com diepresse.com/wissenschaftsbuecher
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2010)