Historiker zeigen, dass Armut in der Geschichte viele verschiedene Gesichter hatte – und bis heute hat.
Weitersfeld ist ein ganz normaler Waldviertler Ort. Beschaulich, aber groß genug, um nicht ganz tot zu sein. Mit einer Kirche in imposanter Lage im Zentrum und Wirtshäusern an der Hauptstraße. Ein Gebäude will aber gar nicht in dieses Bild passen: ein altes, quadratisches Haus mit einem Turm in der Mitte. Es ist ein 1673 eröffnetes Spital, also ein Armenhaus – wie es rund 10.000 in Europa gab. Das Weitersfelder Spital ist aber einzigartig: Zum einen ist es eines der wenigen erhaltenen herrschaftlichen Armenhäuser – bestimmt für zwölf verarmte oder pflegebedürftige Untertanen der Grafschaft Hardegg. Zum anderen sind die vollständigen Spitalsakten erhalten. Alfred Damm hat diese ausgewertet und konnte zahlreiche Details über das Leben der betroffenen Menschen rekonstruieren – bis hin zur Verpflegung. Was dabei auch deutlich wird: wie sehr die Menschen in Zeiten vor gesetzlichen Sozialversicherungen vom guten Willen anderer abhängig waren.
Armut kann viele verschiedene Formen annehmen. Und sie ist kein neues Phänomen. Das wird deutlich, wenn man den vom Wiener Sozialhistoriker Ernst Bruckmüller herausgegebenen Sammelband „Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs“ durchblättert, in dem Damms Studie abgedruckt ist. So wurde z.B. unterschieden zwischen „unwürdigen“ und „würdigen“ Armen – Letztere leiden laut zeitgenössischen Berichten still und müssen sich überwinden, zum Bettelstab zu greifen.
Es gibt auch Unterschiede zwischen Armut auf dem Land und Armut in der Stadt. Die Frage, wo arm sein „schlimmer“ ist, ist müßig, auch die Ursachen können nicht klar unterschieden werden. Aber die Sichtbarkeit ist anders: Ländliche Armut zeigt sich weniger offensichtlich als städtische Armut, argumentiert der Salzburger Geograf Andreas Koch – unter anderem wegen der räumlichen Konzentration. Die Stigmatisierung sei hingegen auf dem Land größer, schreibt er in seinem Beitrag in „Armut in Europa 1500–2000“. In den Texten wird herausgearbeitet, dass Armut eines der dauerhaftesten gesellschaftspolitischen und sozialen Probleme ist – und warum das so ist. Der Herausgeber, Clemens Sedmak, Theologe und Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung in Salzburg, versucht denn auch eine weite Definition von „Armut“: Nicht das (fehlende) Gut, sondern die Beziehung zu einem Gut sei entscheidend. Armut könne daher als Ausgrenzung des „Selbst“ aus symbolhaften Gemeinschaften aufgefasst werden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Armutsbekämpfung ist demnach der „Zugang zu identitätsstiftenden Zugehörigkeiten“.
E. Bruckmüller (Hg.): Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs. 238 S., 30,80 € (Oldenburg).
S. Hahn, N. Lobner, C. Sedmak (Hg.): Armut in Europa 1500–2000. 296 S., 26,90 € (StudienVerlag)
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2010)