Vor 100 Jahren wurde der zentrale Teil von Österreichs Grundordnung beschlossen: ein ausgeklügeltes und bewährtes Regelwerk, paraphrasiert durch die Realverfassung und vielfach ergänzt. Ein Dossier von Benedikt Kommenda, Manfred Seeh, Philipp Aichinger, Ulrike Weiser, Günther Haller und Oliver Grimm mit Grafiken von Petra Winkler und Gregor Käfer.
Rund um die Coronamaßnahmen ist die Verfassung wieder einmal in aller Munde – doch so richtig und buchstäblich zur Hand nehmen kann sie niemand, diese Verfassung. Sie ist ein großer, unübersichtlicher Speicher höchstrangiger Normen, der aus den verschiedensten Quellen gespeist wird. Das Herz dieser Verfassung aber, die Pumpe, ohne die der staatliche Organismus nicht leben könnte, ist das „Bundes-Verfassungsgesetz“. Die konstituierende Nationalversammlung hat es heute vor 100 Jahren, am 1. Oktober 1920, als Grundordnung der Ersten Republik beschlossen; seit 1945 ist das „B-VG“ mit seinen 151 Artikeln auch jenes Regelwerk, auf dem die Zweite Republik basiert.
Mehr Macht, als auf dem Papier steht
Damit ist festgelegt, wie die Macht im Staat verteilt ist. Sie geht vom wählenden Volk, also uns selbst, aus und ist in einem ausgeklügelten, im Großen und Ganzen bewährten System verteilt. Wechselseitige Kontroll- und Einflussmöglichkeiten zwischen den Staatsgewalten verhindern, dass eine davon sich nachhaltig über die – verniedlichend so genannten – Spielregeln hinwegsetzt. So kann der Verfassungsgerichtshof, der übrigens seinen Geburtstag mit dem B-VG teilt, sogar den Gesetzgeber korrigieren und verfassungswidrige Gesetze aufheben. Das war vor 100 Jahren eine Neuerung, die international beispielgebend werden sollte. Bloß die „Realverfassung“ durchkreuzt die schöne Theorie der Gewaltenteilung merklich: Die Regierung und das Parlament, das die Minister kontrollieren sollte, sind eins, indem sie von denselben Koalitionsparteien gestellt bzw. dominiert werden. Immerhin sind die Rechte der Opposition zuletzt gestärkt worden: Seit 2015 kann auch die Opposition einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Auch die Bundesländer haben, je nach politischem Gewicht ihrer Spitzenvertreter, in der Realität mehr im Staatsganzen mitzureden, als auf dem Verfassungspapier steht.