US-Experte Steven Clemons unterstützt den Abzug, glaubt aber, dass der endgültige Rückzug noch lange nicht in Stein gemeißelt ist.
„Die Presse“: Sie waren stets ein Gegner des Irak-Krieges. Wie groß ist die Freude über den Truppenabzug?
Steven Clemons: Ziemlich gedämpft. Offiziell ist der Kampfeinsatz zwar vorbei. Aber bitte vergessen Sie nicht, dass wir immer noch mehr als 50.000 Soldaten im Land lassen. Das ist eine riesige Zahl, sollte es nötig sein, kann sofort wieder gekämpft werden.
Laut Präsident Barack Obama sollen die letzten Truppen den Irak bis spätestens Ende 2011 verlassen.
Clemons: Ob das wirklich passieren wird, werden wir erst sehen. Wir haben eine enorme Instabilität in der Region geschaffen. Ich halte es für durchaus möglich, dass wir noch länger bleiben werden, auch wenn ich es mir nicht wünsche.
Hängt Obama den Rückzug an die große Glocke, um von anderen Themen abzulenken?
Clemons: So dramatisch würde ich das nicht ausdrücken. Aber dass hinter dem Zeitpunkt der Ankündigung politisches Kalkül steckt, möchte ich nicht ausschließen. Der Präsident hat mehrere Wahlversprechen gebrochen, etwa die Schließung des Gefangenenlagers auf Guantánamo. Da kommt die Erfüllung des Versprechens, sich aus dem Irak zurückzuziehen, zu einem guten Zeitpunkt.
Worin liegen denn nun die größten Gefahren im Irak?
Clemons: Auf der einen Seite ist die innenpolitische Lage nach wie vor völlig instabil. Mehr als vier Monate nach der Wahl gibt es immer noch keine Regierung. Wenn die Iraker nicht mal dazu imstande sind, wie sollen sie eine ordentliche Polizei beziehungsweise eine Armee auf die Beine stellen? Außerdem warne ich vor dem immensen Einfluss des Irans. Dessen Präsident Ahmadinejad ist im Irak, aber auch in Afghanistan viel, viel mächtiger als wir glauben.
Was meinen Sie konkret?
Clemons: Sollten wir mit dem Iran auf einen militärischen Konflikt zusteuern, könnte uns Ahmadinejad durch die Unterstützung von Aufständischen im Irak die Hölle heiß machen.
Also hüten sich die USA besser davor, dem Iran mit militärischen Konsequenzen zu drohen, obwohl das Land auf dem Weg zur Atombombe sein könnte?
Clemons: Das ist eines der schwierigsten außenpolitischen Themen. Wir dürfen die militärische Option keinesfalls vom Tisch nehmen. Die Möglichkeit, den Iran anzugreifen, muss jederzeit bestehen bleiben. Anderseits müssen wir dafür sorgen, dass wir die Kontrolle im Irak nicht verlieren. Sonst können wir der iranischen Regierung niemals glaubwürdig drohen.
Sind private Sicherheitskräfte, die Obama im Irak nun verstärkt einsetzen will, eine gute Lösung?
Clemons: Ganz und gar nicht. Private Sicherheitsleute haben in den vergangenen Jahren Zivilisten getötet und vergewaltigt. Es ist ein sehr gefährlicher Trend, die Verantwortung im Irak in private Hände zu legen. Das Image der amerikanischen Sicherheitsfirmen ist so schlecht, dass ihnen kein Iraker jemals wieder vertraut.
Wie soll dann Stabilität geschaffen werden? Anschläge stehen nach wie vor an der Tagesordnung.
Clemons: Diese Entwicklung müssen wir genau beobachten. Sollten die irakischen Behörden die Kontrolle über die Bevölkerung nicht gewinnen, kann es durchaus sein, dass die USA keinesfalls bis Ende nächsten Jahres abziehen werden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2010)