Appell

Ein Anti-Corona-Plan für Europa

In der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ fordern in einem gemeinsamen Appell Wissenschaftler quer durch Europa eine staatenübergreifende Strategie, im Bild Virologe Christian Drosten
In der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ fordern in einem gemeinsamen Appell Wissenschaftler quer durch Europa eine staatenübergreifende Strategie, im Bild Virologe Christian DrostenREUTERS
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Es ist ein Zeichen mit Rufzeichen: Europäische Wissenschaftler fordern, dass die Staaten gemeinsam die Fallzahlen senken müssen

Wien. Es ist ein Zeichen mit Rufzeichen. In der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ fordern in einem gemeinsamen Appell Wissenschaftler quer durch Europa eine staatenübergreifende Strategie, um die Zahl der Corona-Neuinfektionen zu senken – rasch und dauerhaft.

Die Idee zu dem Aufruf (der schon früher hätte erscheinen sollen und inzwischen von der Realität – also harten Lockdowns – überholt wurde) hatte die deutsche Physikerin Viola Priesemann. Prominente Unterzeichner sind etwa der Virologe Christian Drosten, aus Österreich haben Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom am Institut für Höhere Studien, Peter Klimek, Komplexitätsforscher am Complexity Science Hub Vienna und Eva Schernhammer, Leiterin der Abteilung für Epidemiologie an der MedUni Wien mitgearbeitet.

Adressat der Forderungen ist weniger die EU-Kommission, die im Gesundheitsbereich ja kaum Kompetenzen hat, sondern sind die nationalen Regierungen, die europaweit bislang sehr unterschiedliche Strategien im Kampf gegen die Pandemie fahren. Die Forscher hoffen trotzdem auf paneuropäische Kooperation: Bei der Beschaffung der Impfstoffe habe es auch geklappt, so Czypionka.

Autoren und Unterzeichner des „Lancet“-Appells: Komplexitätsforscher Peter Klimek, Epidemiologin Eva Schernhammer, die deutsche Physikerin Viola Priesemann und der deutsche Virologe Christian Drosten (v. l.).
Autoren und Unterzeichner des „Lancet“-Appells: Komplexitätsforscher Peter Klimek, Epidemiologin Eva Schernhammer, die deutsche Physikerin Viola Priesemann und der deutsche Virologe Christian Drosten (v. l.). APA, Med Uni Wien, Imago, AF

Was steht nun auf den zwei Lancet-Seiten? Nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. Zuletzt begnügten sich die Staaten meist damit, steil steigende Infektionskurven abzuflachen. Das Grundniveau der Infektionszahlen wuchs aber beständig mit. Die Forscher fordern nun zwar keine Nullfall-, aber doch eine Niedrigfall-Politik. Sprich: Die Zahlen müssen drastisch runter. Rasch, nachhaltig – und eben europaweit synchron.

Denn: „Nur wenn es auch in den Nachbarländern niedrige Fallzahlen gibt, kann man das Infektionsgeschehen bei offenen Grenzen eindämmen“, sagt Schernhammer. Und es gibt noch andere Argumente für einen dauerhaften Wechsel zur Niedrigfall-Strategie: Denn nur bei relativ wenigen Fällen funktioniert das Testen und Tracen überhaupt. Und bloß dann ist es auch ökonomisch praktikabel. Die Forscher rechnen vor: Gehe man von zehn Kontaktpersonen pro einem Infizierten und zehn Tagen Quarantäne aus, bedeute das bei 300 täglichen neuen Fällen pro einer Million Einwohner, dass drei Prozent der Bevölkerung ständig der Wirtschaft ausfallen. Weniger Fälle erlaubten zudem auch besseres Planen, die Politik müsse dann nicht plötzlich die Notbremse ziehen.
Konkret fordert man, dass es nicht mehr als 10 neue Fälle täglich pro einer Million Einwohner geben soll.

In Österreich wären das also in Summe 90. Damit befinde man sich – sogar mit „Sicherheitspuffer“ – in einem „metastabilen“ Bereich, von dem aus man nicht so leicht,in ein exponentielles, also stark steigendes Wachstum kippen könne, erklärt Klimek. Mit dem aktuellen harten Lockdown werde man das Ziel zwar nicht erreichen, räumt er ein, aber eine Halbierung, vielleicht sogar eine Drittelung der Zahlen seien möglich.

Wie das Ziel – also die 10er-Grenze – überhaupt zu erreichen ist, das sagt das Papier nur abstrakt. Man müsse entschlossen handeln, harte Maßnahmen würden am besten wirken. Indirekt lässt sich daraus aber die Empfehlung für einen gleichzeitigen europaweiten harten Lockdown ableiten – also zumindest für jene Länder, wo es nötig wäre. „Das Minimalziel ist dass es einmal ein Ziel gibt“, sagt Klimek. Ein gemeinsames, klares Ziel hält Czypionka auch für psychologisch wichtig. Einen harten Lockdown, findet er, solle man generell nicht an der Dauer, sondern am Ziel festmachen.

(K)eine Nullfall-Zukunft

Was nach dem erfolgreichen Absenken der Zahlen passieren soll, wird im Lancet nur kurz umrissen. So müsse es weiterhin täglich mindestens 300 Tests pro Million Einwohner geben (was nicht viel ist) und bei lokalen Ausbrüchen müsse man rigoros sein. Was die Hoffnung auf eine rasche Erleichterung durch eine Impfung angeht, bremsen die heimischen Co-Autoren: Im Jänner und Februar werde der Einfluss auf die Kurve „gleich null“ sein. Und: Über die Verhinderung von Ansteckungen durch die Impfung wisse man zu wenig.
Nicht definiert, nur gefordert wird übrigens eine Langzeitstrategie. Klimek erklärt, warum: Denn ob eine Nullfall-Strategie, also ein Auslöschen des Virus, möglich sei, das würden Forscher von Inselstaaten und dem Kontinent doch tendenziell verschieden sehen.

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