Großbritannien

Nordirland wird zum Konfliktthema der Brexit-Umsetzung

Nachdem die Folgen des EU-Austritts erkennbar werden, will auf einmal London eine Fristverlängerung von Brüssel.
Nachdem die Folgen des EU-Austritts erkennbar werden, will auf einmal London eine Fristverlängerung von Brüssel.(c) imago images/Steinach (Sascha Steinach via www.imago-images.de)
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Nachdem die Folgen des EU-Austritts erkennbar werden, will auf einmal London eine Fristverlängerung von Brüssel.

London. Der Brexit ist ein Prozess, der niemals enden wird. Keine 40 Tage, nachdem der britische EU-Austritt zu Jahresbeginn in Kraft getreten ist, wird in der kommenden Woche der Vizechef der Europäischen Kommission, Maroš Šefčovič, zu neuen Verhandlungen in London erwartet. Gegenstand seiner Gespräche mit dem britischen Kabinettsminister Michael Gove wird das neue Handelsregime für Nordirland sein. Dort bringt der Brexit so schwerwiegende Einbrüche, dass Regierungschefin Arlene Foster von den pro-britischen Unionisten mittlerweile ultimativ verlangt: „Das Nordirland-Protokoll muss weg.“

Mit dieser Vereinbarung hatten die britische Regierung und die EU einen Weg gefunden, die Entstehung einer befestigten Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland zu verhindern und den Friedensprozess auf der Insel zu sichern. Nordirland blieb de facto Teil von EU-Binnenmarkt und Zollunion für Güter. Obwohl es der britische Premierminister, Boris Johnson, vehement abstritt, wanderte damit die Grenze in die Irische See. Kontrolliert werden nun britische Güter bei der Einfuhr nach Nordirland. Das führt zu langwierigen Verzögerungen, die sich wiederum in Lieferengpässen und leeren Supermarktregalen niederschlagen.

So groß ist der Ärger, dass mittlerweile Drohungen gegen Grenzbeamte in der Form von Graffiti gesprayt werden. Von einer „fiebrigen Atmosphäre“ spricht der Polizeichef der Provinz, Simon Byrne, und warnt „vor dem Abgrund“. Die Erinnerung an tödliche Jahre der Gewalt ist in Nordirland noch frisch. Trotz des Friedensprozesses wird davon ausgegangen, dass paramilitärische Gruppen beider Seiten weiterhin Zugang zu Waffen haben. EU-Zöllnern, die ihren Job in Nordirland gewissenhaft ausgeübt hatten, wurde diese Woche empfohlen, sicherheitshalber zu Hause zu bleiben.

Die Führung in London setzt auf eine Doppelstrategie. Ermutigt durch den diplomatischen Fauxpas der EU-Kommission vor einer Woche, kurzfristig das Protokoll unter Berufung auf Artikel 16 außer Kraft zu setzen, schließt Premier Johnson genau denselben Schritt nun seinerseits nicht aus: „Wir werden alles dafür tun, um sicherzustellen, dass es keine Grenze in der Irischen See gibt“, sagte er. Die EU mag entrüstet sein, die moralische Autorität hat sie aber verloren.

In die Brexit-Verlängerung

Zum Zweiten sucht London aber eine pragmatische – und überraschend weit gefasste – Lösung. Die derzeit bis April geltende Übergangsfrist für einzelne Güter, etwa Lebensmittel, soll bis 2023 ausgeweitet werden. Das sorgte in der EU für einige Verblüffung: Denn ausgerechnet Johnson hatte das ganze Vorjahr über Angebote für eine Fristverlängerung abgelehnt („Get Brexit Done“).

Das Begehr nach Aussetzung des Nordirland-Protokolls wurde umgehend abgewiesen: Es gehe nun um die „Umsetzung“ der geltenden Vereinbarung, nicht um eine Aussetzung, ließ Šefčovič wissen. Der irische Außenminister, Simon Coveney, schrieb dem großen Bruder in das Stammbuch: „Das Protokoll wird bleiben. Die EU wird nicht auf Basis einseitiger Forderungen oder Drohungen handeln.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2021)

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