„Die Staatsspitze verweigert den sozialen Dialog“

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Laut der Historikerin Danielle Tartakowsky nimmt die Regierung von Sarkozy das Risiko einer Eskalation bewusst in Kauf. Den Protest der Menschen erklärt sie mit deren Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Paris. Danielle Tartakowsky ist Professorin für Gegenwartsgeschichte an der Uni Paris-VIII und Forscherin am Zentrum für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie hat sich mit der französischen Arbeiterbewegung und der Geschichte der „Volksfront“ von 1936 beschäftigt sowie mit Sozialkonflikten der jüngeren Vergangenheit.

Die Presse: In Frankreich wird oft gestreikt und demonstriert. Gibt es eine typisch französische Protestkultur?

Danielle Tartakowski: Ich sehe das nuancierter. Auch in anderen europäische Länder gibt es schwere Konflikte mit großen Demonstrationen. Einige Soziologen haben das bereits mit dem Ausdruck „Protestdemokratie“ definiert.

Frankreich ist dennoch dafür bekannt, dass Konflikte auf der Straße ausgetragen werden.

Das muss man historisch erklären. Die Traditionen des sozialen Dialogs in Deutschland und Frankreich sind sehr unterschiedlich. In Frankreich haben die Unternehmer nie auf die Sozialpartnerschaft gesetzt. Auch die Gewerkschaftsbewegung, die in ihren Ursprüngen einen revolutionären Charakter hatte, blieb minoritär. Aber sie haben immer wieder große Bewegungen in Gang gebracht. Alle großen sozialen Errungenschaften in Frankreich sind das Ergebnis großer und kollektiver Mobilisierungen der Arbeiterbewegung.

Die Sozialpartner haben viel vom Staat als Vermittler in diesem nicht immer einfachen Dialog erwartet. Erfüllt der Staat seine Rolle nicht mehr?

Das trifft heute besonders zu. Es herrscht das Gefühl, dass dieser Staat, der als Raum der Debatte und Verhandlung geschaffen worden ist, die soziale Diskussion verweigert. Die an den Sozialstaat gerichteten Erwartungen werden so in provokativer Art frustriert.

Ist es Zeichen einer besonders lebendigen Demokratie, wenn die Leute streiken und demonstrieren, oder eher Symptom einer politischen Krise?

Man kann es positiv werten, wenn die Bürger ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das Demonstrationsrecht ist nicht von ungefähr ein wichtiges Kriterium demokratischer Verhältnisse in einer Gesellschaft. Umgekehrt kann man es auch bedauern, dass den Arbeitnehmern oder Schülern gar nichts anderes übrig bleibt, als ihre Rechte selber zu verteidigen. Das bedeutet auch, dass die dazu vorgesehenen institutionellen Mittel nicht funktionieren. Deshalb ist dies auch Ausdruck einer Krise der repräsentativen Demokratie.

Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass dieser Konflikt in Gewalt endet?

Diese Gefahr ist umso realer, da die Regierung ganz offensichtlich das Risiko in Kauf nimmt und darauf setzt, dass sich die Bewegung durch gewaltsame Vorfälle diskreditiert. Aber ich kann nicht voraussagen, wie weit das gehen kann.

Auf den ersten Blick ist es doch erstaunlich, dass nun viele Junge gegen die Pensionsreform demonstrieren. Ist das ein Vorwand, um eine tiefer sitzende Unzufriedenheit loszuwerden?

Seit zehn Jahren haben die Mittelschüler und Studenten regelmäßig protestiert. Sie machen sich zu Recht Sorgen über ihre Zukunft. Jetzt sagt man ihnen, sie würden erst mit 67 Jahren in Pension gehen können. Und schon jetzt haben viele nur prekäre Arbeitsmöglichkeiten. Sie empfinden diese Reform wie die Ankündigung einer schwarzen Zukunft. Als Hochschullehrerin kann ich Ihnen sagen, dass die Studenten sehr wohl wissen, wovon sie reden. Sie sind angewidert von einer Welt, die ihnen zutiefst ungerecht erscheint. Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit sollte man nicht unterschätzen.

Sind Sie überrascht vom Ausmaß und der Eskalation der jetzigen Proteste?

Nein, keineswegs. Die Altersversicherung der Sécurité Sociale gilt als eine der großen Errungenschaften, welche die Franzosen und Französinnen verteidigen wollen. Sie halten umso mehr daran fest, weil sie als erkämpfte Errungenschaft gilt. Es gibt dazu einen Slogan in den Demonstrationen, der besagt: „Wir haben gekämpft, um die Pension zu erobern, wir werden kämpfen, um sie zu verteidigen.“

Hinzu kommen die Provokationen der Staatsführung. Wenn der Staatspräsident etwa sagt, er bemerke die Streiks gar nicht, oder wenn ein Premierminister erklärt, es sei nicht die Straße, die regiere, fühlen sich die Bürger bei den herrschenden Spannungen dadurch noch mehr herausgefordert. Wir leben in einem Land, in dem die sozialen Kämpfe maßgeblich das kollektive Bewusstsein geprägt haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2010)

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