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Menschenrechtszentrum von russischer NGO Memorial wird aufgelöst

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Einen Tag nach Verbot der russischen Menschenrechtsorganisation wurde auch die Unterorganisation verboten.

Einen Tag nach dem Verbot der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial hat ein Gericht in Moskau am Mittwoch auch das Menschenrechtszentrum der NGO aufgelöst. Das Menschenrechtszentrum hatte sich für Rechte politischer Gefangener sowie von Minderheiten wie Migranten und Homosexuellen eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft warf dem Zentrum vor, "aktiv" extremistische Organisationen unterstützt zu haben. Das Urteil löste international Entsetzen aus.

Die UNO bedauere "zutiefst" die Entscheidung der russischen Justiz, beide Organisationen aufzulösen, sagte eine Sprecherin von UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet der Nachrichtenagentur AFP. "Dadurch werden zwei der angesehensten Menschenrechtsgruppen Russlands aufgelöst und die schwindende Menschenrechtsgemeinschaft des Landes wird weiter geschwächt."

Europäischer Gerichtshof fordert Aussetzung

Eine freie, vielfältige und aktive Zivilgesellschaft sei für jede Gesellschaft von entscheidender Bedeutung, und "die legitimen Stimmen der Zivilgesellschaft sollten nicht stigmatisiert werden, auch nicht durch die Verwendung des Begriffs 'ausländischer Agent'", sagte die Sprecherin. Sie rief die russischen Behörden auf, Einzelpersonen und Organisationen, die sich für Menschenrechte einsetzen, zu schützen und zu unterstützen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) forderte seinerseits eine Aussetzung des Verbotsurteils gegen die russische Menschenrechtsorganisation. Die Entscheidung müsse ausgesetzt werden, um es dem Gerichtshof zu ermöglichen, einen Eilantrag der Organisation gegen das Moskauer Urteil zu prüfen, erklärte das Gericht in Straßburg am Mittwoch.

Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin hieß es, die Entscheidung "widerspricht internationalen Verpflichtungen zum Schutz grundlegender Bürgerrechte, die auch Russland eingegangen ist". Kritik kam aus den USA und von der EU.

Demonstrierende vor dem Gerichtsgebäude

Jan Ratschinski von der Memorial-Leitung kündigte an, gegen das Urteil zunächst vor russischen Gerichten vorgehen zu sollen. "So nötig auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (in Straßburg, Anm.)", sagte er laut der Nachrichtenagentur Interfax. Wie schon am Vortag bei der Verhandlung über die Dachorganisation demonstrierten auch am Mittwoch viele Menschen vor dem Gerichtsgebäude gegen das sich abzeichnende Urteil.

Bei der Gerichtsanhörung führte die Anklagevertretung aus, dass das Menschenrechtszentrum selbst "Menschenrechte und Freiheiten verletzt" habe. Dies rechtfertige eine Auflösung der Organisation. Zudem wurde dem Zentrum Intransparenz bei Finanzen attestiert.

Ein Vertreter des Anwaltsteams von Memorial sagte vor Beginn der Anhörung, das Team rechne fest mit einer Verurteilung des Menschenrechtszentrums und einem anschließenden Verbot. Dies sei "offensichtlich". In der Gerichtsanhörung warnte der Leiter des Memorial-Menschenrechtszentrums, Alexander Tscherkassow, vor der öffentlichen Wirkung eines Verbots seiner Organisation. Sollte es tatsächlich zu einer Zwangsauflösung kommen, wäre dies "eine Bestätigung dafür, dass die Verfolgung aus politischen Gründen zu einer systemischen Realität in unserem Leben geworden ist", sagte Tscherkassow.

„Weiterer Schlag gegen die Zivilgesellschaft“ 

"Die herzlose Schließung des Menschenrechtszentrums von Memorial, das in den letzten 30 Jahren tausenden Menschen in und außerhalb Russland geholfen hat, ist ein weiterer Schlag gegen die Zivilgesellschaft in Russland", kommentierte am Mittwoch Marie Struthers von Amnesty International.

Am Dienstag hatte das Oberste Gericht Russlands die Auflösung von Memorial International mit der Begründung angeordnet, die Organisation habe gegen das Ausländische-Agenten-Gesetz verstoßen. Das Gesetz belegt NGOs, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, mit strikten Auflagen. Memorial setzt sich seit mehr als 30 Jahren für die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion und für die Wahrung der Menschenrechte im heutigen Russland ein. Die NGO zählt zu den wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland.

Das Verbot von Memorial International war am Dienstag international verurteilt worden. Das österreichische Außenministerium sprach von einem "schweren Schlag für alle unabhängigen Stimmen in Russland". Das Auswärtige Amt in Berlin bezeichnete das Urteil gegen die Organisation als "mehr als unverständlich", US-Außenminister Antony Blinken sprach von einem "Affront gegen die Sache der Menschenrechte überall". Das russische Volk habe "etwas Besseres verdient". EU-Außenbeauftragter Josep Borrell zeigte sich bestürzt und mahnte, dass für die Entwicklung und den Fortschritt einer Gesellschaft "der kritische Blick zurück in ihre Vergangenheit unentbehrlich" sei.

Zum Schutz politisch Gefangener und Minderheiten

Nachdem in Russland selbst Memorial International vorgeworfen war, in seiner Datenbank mit drei Millionen Einträgen zu Opfern staatlicher Repression, auch etwa 20 NS-Kollaborateure gelistet zu haben und damit die Rehabilitierung von Nazi-Verbrechern zu betreiben, meldete sich am Mittwoch auch das Internationale Auschwitz Komitee (IAK) zu Wort. "Auschwitz-Überlebende in aller Welt verfolgen die Arbeit der bei Memorial engagierten Menschen seit vielen Jahren mit hohem Respekt und großer Sympathie", erklärte IAK-Vizepräsident Christoph Heubner. Das, was die Menschen von Memorial mit ihrer Arbeit für die Menschenrechte erreicht haben, leuchte weit nach Europa hinein. "Der Versuch russischer Behörden, die Zeit zurückzudrehen und die Idee und die Arbeit von Memorial zu zerstören, wird nicht gelingen", betonte er.

Das Menschenrechtszentrum Memorial legt den Fokus auf die Rechte politischer Gefangener in Russland sowie von Minderheiten wie Migranten und Homosexuellen. Jedes Jahr veröffentlicht das Zentrum eine Liste mit politisch Gefangenen. Zuletzt wies das Zentrum auch immer wieder auf das Schicksal des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hin, dessen Organisationen in Russland als "extremistisch" eingestuft sind.

Die nunmehrigen Entscheidungen russischer Gerichte in Bezug auf Memorial kommt nicht überraschend. Nachdem am 8. November zwei russische Staatsanwaltschaften synchron Liquidierungsanträge in Bezug auf die Mutter- und die Tochterorganisation gestellt hatten, war von einer koordinierenden Rolle des russischen Geheimdiensts FSB in dieser Causa ausgegangen worden. Gesprächspartner der APA meinten damals, dass die Liquidierung des Menschenrechtszentrums, das mächtige Geheimdienstoffiziere mit Listen politischer Gefangener seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten massiv verstörte, als beschlossene Sache gelte. Memorial International waren damals aber noch "geringe Chancen" eingeräumt worden, doch nicht aufgelöst zu werden. Nachdem sich jedoch der russische Präsident Putin im Dezember kritisch zu Memorial geäußert hatte, schwanden auch diese kleinen Chancen.

(APA/AFP)

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