Redebedarf

Fühl dich gefälligst!

100 Rätsel der Kommunikation, Folge 7. Digitalisierung produziert haptischen Notstand. Und: Gefühle löst man nicht per Knopfdruck aus.

Hör nicht auf das, was ich sage! Tu einfach so, als wär ich nicht da! Die Welt ist voller paradoxer Aufforderungen. Aber die seltsamsten produziert das digitale Zeitalter. Fühl dich gedrückt! Solche Absurditäten verschickt man doch gerne, wenn der andere Geburtstag hat oder zu ähnlichen Gelegenheiten, wenn man dem anderen auf die Schulter geklopft, in den Arm genommen, geherzt oder gestreichelt hätte. Fühl dich gedrückt! Ich fühl mich gedrückt, wenn mich jemand drückt. Mich auf Kommando gedrückt fühlen funktioniert ähnlich gut, wie sich auf Kommando besser fühlen. Oder sich auf Kommando auf die Arbeit freuen und aufs Staubsaugen. Oder überhaupt auf Kommando fühlen.

Man kann sich ja auch ziemlich schwer daran erinnern, wie es sich exakt anfühlte, als man damals das letzte Mal gedrückt worden ist. Gefühle kann man nicht rekapitulieren. Von einschneidenden Erlebnissen wie etwa Geburten erfährt man meistens auch nur recht globale Einschätzungen. Aber das Gefühl, das Glück vor allem, triggern per Gehirnkommando, so etwas hat noch nicht einmal die Digitalisierung erfunden. Sonst wären wahrscheinlich viele Menschen glücklicher. Auch wenn man auf die Kindheit zurückschaut, kommen zwar Gefühle auf, aber nicht die exakten, die man hatte, sondern nur ein recht generelles, dass sie eben schön, eher nicht so schön, schwierig oder fantastisch war. Und dann kommen diese wirren Ansagen: Fühl dich gedrückt, geherzt, umarmt, geliebt, auf die Schulter geklopft. Fühl dich als hätte dich jemand im Stich gelassen. Wo ist noch mal der richtige Knopf dafür?

Der Gefühlshaushalt ist ja kein Cockpit, in dem man irgendwas boostern kann oder Schubumkehr aktivieren. Die Digitalisierung ist kalt. Das wusste man schon. Komm rüber und drück mich, wenn du willst, dass ich mich gedrückt fühle. Aber bitte pass auch gleichzeitig auf, dass ich das auch wirklich will. Aber tu nicht so als wär es haptisch unvergessliches Erlebnis, wenn ich absurde Zeilen auf einem glatt-kalten Display lese, das kühl-blaues Licht in mein Hirn wirft, um mir ein Gefühl von Wärme vorzugaukeln. Ich würde eh gerne alle drücken. Aber diese schnelle, dynamische Zeit, den Anspruch von sexueller Belästigung, soziales Rollenverhalten, interkulturelle Differenzen, all das macht es kompliziert.

Früher waren eindeutig noch mehr Menschen unterwegs, die mit dem Schild „Free Hugs“ auf der Fußgängerzone oder am Festival standen und Umarmungen spendeten. Man muss ja nicht berührt werden, die ganze Zeit. Aber man muss auch nicht ständig aufgefordert werden, sich zu fühlen, als würde man.

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