Polen

EU-Störenfried mit neuer Rolle in der Welt

Morawiecki, Polens Premier, mit Kommissionschefin von der Leyen bei einem Treffen im Juni: Problemkind Polen mit wachsendem Selbstbewusstsein.
Morawiecki, Polens Premier, mit Kommissionschefin von der Leyen bei einem Treffen im Juni: Problemkind Polen mit wachsendem Selbstbewusstsein. IMAGO/ZUMA Wire
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Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine ist Polen zum Nato-Frontstaat und zum Waffen-Hub nach Kiew geworden. Rechtsstaats- und andere Probleme mit EU und USA sind – vorerst – in den Hintergrund gerückt.

Warschau. Die Motoren heulen auf, hart gebremste Reifen hinterlassen dicke Rauchwolken, und dauernd kreisen Tankflugzeuge am Himmel. In Rzeszow-Jasionka landen die Flieger seit Ende Februar oft im Viertelstundentakt. Der kleine Regionalflughafen am Fuße des Karpatenausläufers Bieszczady ist im Zuge des russischen Angriffskriegs zum wichtigsten Flughafen Polens geworden. Rund 80 Kilometer weiter östlich beginnt die Ukraine. Dorthin liefern die USA, Großbritannien, Kanada und viele weitere Nato-Mitglieder seit einem halben Jahr Waffen und Munition für den Kampf gegen die russische Armee.

Wegen des Kriegs im östlichen Nachbarland ist Polen am 24. Februar zum Nato-Frontstaat geworden. Es grenzt nicht nur an die Ukraine, sondern im Nordosten auch an die russische Exklave Kaliningrad, die von Moskau seit Putins Machtantritt vor 20Jahren hochgerüstet wurde. Dazu kommen über 450 Kilometer Grenze mit Belarus, dessen Langzeitdiktator, Alexander Lukaschenko, seit der Protestwelle von 2020 auf Moskau angewiesen ist und deshalb sein Gebiet der russischen Armee für Luftangriffe auf die Ukraine zur Verfügung gestellt hat. Lukaschenko droht Polen unverhohlen mit einem Einmarsch seiner Truppen, falls sein Land „provoziert“ werde.

Warnungen vor Putin blieben ungehört

Warschau hat schon seit Jahren vor Wladimir Putin gewarnt und wurde dafür vor allem nach dem Wahlsieg der rechtskonservativen Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Brüssel und Berlin verhöhnt. Selbst die Nato betrachtete Russland in ihrer Doktrin als Partnerstaat.

Doch die „Westplainers“, die „Besserwisser im Westen Europas“, hatten ein Einsehen, nachdem Putin wortbrüchig in die Ukraine einmarschiert war. Auch dies gibt Polen gehörig Auftrieb. Man habe es ja schon immer gewusst und schon immer vor faulen Kompromissen und wohlfeilen Geschäften mit dem Kreml gewarnt, sagen heute Regierung wie liberale Opposition. Beim jüngsten Nato-Gipfel wurde dieser schmerzhaften Einsicht Rechnung getragen: Russland ist kein Partner mehr, sondern ein Feind – und Polen bekommt erstmals seit dem Nato-Beitritt vor 25 Jahren feste US-Truppen-Basen. Die bisherige Rotationsbasis aus Rücksicht auf den Kreml wurde über Bord geworfen.

Das Fünfte Korps der US-Truppen in Europa zieht noch dieses Jahr nach Poznań, rund 300 US-Offiziere werden dort fest stationiert, und dazu werden Tausende zusätzlicher Nato-Truppen erstmals mit schweren Waffen die Nato-Ostflanke stärken. „Warschau hatte recht, dies ist bisher die Lehre aus dem Ukraine-Krieg“, kommentiert der Politologe Piotr Andrzejewski vom angesehenen West-Institut in Poznań. Allein schon dies gäbe dem nun auch geostrategisch wichtigeren Polen enormen Auftrieb auf dem internationalem Parkett.

„Dazu kommt die Aufnahme von rund drei Millionen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, die als Gäste in Hunderttausenden von Familien aufgenommen wurden, statt in Flüchtlingslagern bloß auf Zeit Geduldete zu sein“, unterstreicht Andrzejewski. Das EU-Problemkind mit Rechtsstaatsproblemen, LGBT-freien Zonen, einem praktisch vollständigen Abtreibungsverbot, Versammlungsverboten und staatlichen Versuchen, die Pressefreiheit einzuschränken, hat seit Beginn des russischen Angriffskriegs an Bedeutung in der Welt gewonnen.

Selbst Brüssel drückte Ende Juni beide Augen zu und gab monatelang eingefrorene 35Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds für Polen frei. Noch fließt das Geld aber nicht nach Warschau: Die Kommission will erst mit der Auszahlung beginnen, wenn die unter PiS-Führung beschlossene Reform des Justizwesens zurückgenommen und somit die Unabhängigkeit der Richter wiederhergestellt wird.

Lob für Flüchtlingsaufnahme

Für die bereitwillige Flüchtlingsaufnahme aus dem Nachbarland erhält Polen hingegen Lob: Jeder siebente Hauptstadtbewohner stammt mittlerweile aus der Ukraine. Die Hälfte der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, meist Frauen, ist bereits in den Arbeitsmarkt integriert. Damit brüstet sich nicht nur die PiS-Regierung, die sich seit der großen Flüchtlingswelle 2015 vehement gegen die EU-weite Umverteilung von Flüchtlingen „nach deutschem Diktat“ gestemmt hat. Der neue multikulturelle Charakter Polens hat auch die Bevölkerung mobilisiert: Polnische und ukrainische Flaggen wehen auf den Balkonen Warschaus nebeneinander.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2022)

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