Die Ich-Pleite

Theaterabend

Carolina Frank
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Wie macht man ein Schillerstück für ein heutiges Publikum noch spannend? Man streicht die Pinkelpausen.

Heute Abend gehe ich mit meinem Bruder ins Burgtheater. „Maria Stuart“. Von Shakespeare, sagt er. „Maria Stuart“ sei von Grillparzer, verbessere ich, ohne ihn die Überlegenheit der älteren Schwester spüren zu lassen. Nein, von Schiller, sagt er, weil er nachgeschaut hat. Hauptsache, ­großer deutscher Dramatiker, sag’ ich.

Mein Bruder schaut so aus, als würde er gleich erwidern, dass Grillparzer kein Deutscher war. Aber das weiß ich doch selbst. Mit meinem Germanistikdiplom. Jedenfalls freue ich mich ­riesig auf den Theaterabend. Obwohl mein Hals ein bisschen kratzt. Da ist die Heizungsluft eigentlich nicht so gut. Andererseits wird das Burgtheater bestimmt Energie sparen. Mehr als 19 Grad hat es da sicher nicht. Auch nicht ideal für meinen Hals. Aber bis heute Abend wird es mir schon besser gehen. Viel trinken, sagt meine Hausärztin immer. Mindestens drei Liter am Tag. Andererseits sollte ich vielleicht doch nicht so viel trinken. ­
Sonst muss ich die Pausen in der Klo­schlange verbringen. Ich sehe mich schon geduldig hinter einer Reihe von älteren Damen bis auf die Straße zurückstauen. Wie viele Pausen gibt es in dem Stück überhaupt?

„Spieldauer zwei Stunden 45 Minuten“, steht da. Keine Pause. Hm. Das ist für uns Beckenbodengymnastikschwänzerinnen ja schon eine kleine Herausforderung. Es könnte auch ein genialer Regieeinfall sein. Wie macht man ein Schillerstück für ein heutiges Publikum noch spannend? Man streicht die Pinkelpausen. So kann man Maria Stuarts Leiden durch die Gefangenschaft besser nachfühlen. Und die Unterdrückung des – äh – geknechteten Volkes. Die Spannung bis zur Unterzeichnung von Maria Stuarts Todesurteil steigt und steigt, bis man sie zum Schluss kaum mehr aushalten kann.

("Die Presse Schaufenster" vom 16.12.2022)

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