Neues Buch

Juden und Nazis in Buenos Aires: „Mein Opa hat aus deinem Seife gemacht“

 Mehr als 70 NS-Devotionalien wurden 2017 hinter einer falschen Wand bei einem Antiquitätenhändler in Buenos Aires entdeckt. Man vermutete, dass ein hochrangiger Nazi sie auf der Flucht mitgenommen hatte. Allerdings identifizierten deutsche Experten den Großteil davon als Fälschungen.
Mehr als 70 NS-Devotionalien wurden 2017 hinter einer falschen Wand bei einem Antiquitätenhändler in Buenos Aires entdeckt. Man vermutete, dass ein hochrangiger Nazi sie auf der Flucht mitgenommen hatte. Allerdings identifizierten deutsche Experten den Großteil davon als Fälschungen.(c) AFP via Getty Images (JUAN MABROMATA)
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Im argentinischen Exil lebten deutsche und österreichische Juden Tür an Tür mit Hitler-Fans – auch die Familie des Autors Ariel Magnus. Im Buch „Tür an Tür“ erzählt er nun die Geschichte dieser schrecklich-bizarren Koexistenz.

Ein Jude flieht vor den Nazis aus Deutschland nach Buenos Aires und wohnt dort fortan – unter Nazis: „Sie hießen Winkler, und problematisch war eigentlich nur die Frau“, schreibt der Enkel dieses Juden, der argentinische Autor Ariel Magnus. „,Hitler hat zu wenige von euch getötet‘, sagte Frau Winkler, wenn sie einen guten Tag hatte. An allen anderen Tagen kamen nur Schimpftiraden.“ Der Nachbarschaftskrieg umfasst auf den großelterlichen Balkon hinabgeschleuderte Abfälle oder umgekehrt einen Wutausbruch des Großvaters, der aus der Wohnung stürmt und erstaunlich treffsicher „alle greifbaren Gegenstände“ nach oben schleuderte.

Wohl kein Einzelfall in Belgrano, dem deutschesten Viertel der Hauptstadt Argentiniens, das bis März 1945 neutral blieb und wohin über die „Rattenlinie“ besonders viele NS-Täter flohen: allen voran Josef Mengele und Adolf Eichmann, auch hochrangige österreichische Nazis wie die NS-Minister Oswald Menghin und Hans Fischböck. Aber auch viele geflohene deutsche Juden waren hier – Argentinien war das Land, das weltweit die meisten Juden pro Einwohner aufnahm. Und so wohnten dort oft Nazis und „Jeckes“ – wie die deutschen jüdischen Auswanderer genannt wurden – in ihrem Exil buchstäblich Tür an Tür.

Die „Jeckes“ und die Holocaust-Leugner

„Tür an Tür“ heißt auch das neue Buch des 47-jährigen argentinischen Autors Ariel Magnus, das ausgehend vom Leben seiner Familie die Geschichte dieser Nachbarschaft erzählt. Vom Nazi-durchseuchten Argentinien wurde ja schon viel erzählt, bis heute verkauft sich auch der Mythos gut, dass Hitler 1945 in einem U-Boot nach Südamerika geflohen sei. Ariel Magnus aber gelingt es, auf nur 170 Seiten die Geschichte des NS-durchseuchten Argentiniens in neuem Licht zu zeigen: Und zwar, indem er von den Erfahrungen der dortigen „Jeckes“ und ihrem Zusammenleben mit Hitler-Fans und Holocaust-Leugnern in den deutschen Communitys ausgeht.

Magnus lebt nach etlichen Jahren in Deutschland wieder in Buenos Aires, seine bisherigen Bücher wie „Ein Chinese auf dem Fahrrad“ oder „Das zweite Leben des Adolf Eichmann“ hat er auf Spanisch verfasst, dieses hier ist sein erstes auf Deutsch.

Locker-anekdotisch mischt Ariel Magnus persönliche Erfahrungen und historische, oft aberwitzige Details. Wer weiß zum Beispiel heute noch von den Plänen einer argentinischen NSDAP-Gruppe, die Volksabstimmung zum „Anschluss“ Österreichs auch in Argentinien durchzuführen? Dazu mietete sie einen Zug, um an mehreren Tagen Zehntausende Deutsche und Österreicher auf deutsche Schiffe bringen zu lassen. Als die Regierung das verbot, gab es stattdessen eine „Anschluss“-Feier im Luna-Park-Stadion von Buenos Aires, mit Schätzungen zufolge bis zu 20.000 Besuchern; Fotos erinnern an NS-Veranstaltungen im Berliner Sportpalast. Magnus erzählt auch von der nationalsozialistischen Zeitschrift „Der Weg“, die 1947 in einem Vorort von Buenos Aires gegründet wurde und bis in die späten 1950er-Jahre existierte, teilweise mit Zehntausenden Abonnenten weltweit bis nach Tibet.

Zwei deutsche „Dörfer“ in Buenos Aires

Schon früh prägte ein Journalist das Bild der zwei deutschen „Dörfer“ in Buenos Aires, eines „republikanischen“ und eines „nationalistischen“. Tatsächlich habe es hier alles „mindestens doppelt“ gegeben, schreibt Magnus. „Wenn man die deutschen Zeitungen aufschlug, wurde man auf verschiedene Veranstaltungen geschickt, als handelte es sich um zwei verschiedene Buenos Aires“. Die Musik aber verband alle (wer es sich leisten konnte, ging ins Teatro Colón) – und auch das seltsame „Belgrano-Deutsch“, bei dem unter anderem spanischen Wörtern deutsche Endungen verpasst wurden.

Die deutsche Pestalozzischule, die Magnus ab den 1980er-Jahren besuchte, wurde 1934 aus Protest gegen den Nazi-freundlichen Kurs der Goethe-Schule gegründet. Magnus erzählt vom ersten Fußballspiel, das um 1990 herum zwischen den Schulen veranstaltet wurde; es sollte versöhnend wirken, führte aber zum Eklat, als ein Goethe-Schüler Ariels Bruder zuflüsterte: „Mein Großvater hat aus deinem Seife gemacht.“
Heute sei „das Dorf“ wieder halbwegs vereint, schreibt Ariel Magnus. Als Aufgabe seiner Generation sieht er „eine Mischung aus Versöhnung und Wachsamkeit“. Sein Vermieter in Patagonien, dessen Vater noch ein Hakenkreuz ins Parkett seines Hauses hatte legen lassen, bestritt im Gespräch nicht den Holocaust, meinte aber doch, man sollte ihn „besser recherchieren“. „Als ich irgendwann auszog“, erzählt Ariel Magnus, „waren wir gut Freund. Sollte ich jemals als Scheißjude beschimpft werden, kann ich widersprechen: Stimmt nicht, ich hab einen Freund, der Nazi ist!“

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