Harry oder Hermine, Mephisto oder Gretchen?

Harry oder Hermine Mephisto
Harry oder Hermine Mephisto(c) Erwin Wodicka
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Schreiben Frauen anders? Das ist strittig. Ruth Klüger hat uns aber gezeigt: Sie lesen anders.

Wer schrieb wohl die schönste Liebesgeschichte der Welt? Shakespeare mit seinem „Othello“, behauptete einmal George Tabori. Schiller mit „Kabale und Liebe“, meinte dagegen Marcel Reich-Ranicki. Das sollen die schönsten Liebesgeschichten sein? Fragt die 1931 in Wien geborene Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger: Geschichten, in denen die Geliebte von ihrem Geliebten umgebracht wird, und das auf brutale Weise, erdrosselt die eine, vergiftet die andere? Wie würde wohl ein Mann reagieren, fragt Ruth Klüger weiter, wenn eine Frau Kleists „Penthesilea“ oder Hebbels „Judith“ als die schönste Liebesgeschichte bezeichnete? Immerhin zerfleischt die eine den Begehrten als Ersatz für den Liebesakt. Und die andere schlägt ihm postkoital den Kopf ab. Beunruhigend, oder?


Märchen sind besser als ihr Ruf. Wir Frauen dagegen nicken meist nur kurz: Denn: Wenn sie „Othello“ sehen, dann identifizieren sie sich eben nicht mit Desdemona. Und wenn sie den „Faust“ sehen, nicht mit dem Gretchen. Wie oft bleiben Frauenfiguren in der Weltliteratur papieren und blass! Und darum wechseln Frauen so, wie Chamäleons zumindest im Sprichwort die Farbe wechseln, die Perspektive. Das lernen Frauen von Kindesbeinen an.

Wobei: In den ersten Lebensjahren sind Mädchen ja noch gut bedient. Da hören sie von harmlos geschlechtsneutralen Eisbären und Äffchen und Raupen, die ausziehen, um große Abenteuer zu bestehen. Oder von fiesen Feen, neugierigen Prinzessinnen, bösen Hexen – alles starke Frauenfiguren. In den oft von Frauen überlieferten Märchen sind es die Männer, die blass bleiben: Die Prinzen dürfen schön sein und am Ende einen Kuss abliefern. Märchen sind, genauer betrachtet, weit weniger frauenfeindlich als oft unterstellt.

Aber dann? Wenn die Mädchen Affen und Raupen und Prinzessinnen hinter sich gelassen haben? Dann wird ihnen eine seltsame Anpassungsleistung abverlangt; das heißt: Mädchen und Frauen verlangen sie sich selbst ab, um überhaupt Zutritt zur (Welt-)Literatur zu bekommen. Und so sind sie Old Shatterhand und nicht Nscho-tschi, sie sind Harry Potter und nicht Hermine. Schließlich wollen auch Mädchen Helden sein – selbst wenn sie sich dafür lesend in einen Mann verwandeln müssen.

Buben dagegen lernen diesen Wechsel der Perspektive kaum – und wenn, erst spät. Der Handel weiß das und agiert entsprechend: Eine Heldin in einem Kinder- und Jugendbuch spricht mit wenigen Ausnahmen nur ein weibliches Publikum an. Wer Buben als Leser haben will, muss darum einen Buben in den Mittelpunkt stellen. Und hat die Mädchen gleich mit, denn wie gesagt: Sie sind es gewöhnt. Zum Glück für den Buchhandel.

Dabei war die lesende Frau lange Zeit gar nicht gern gesehen. Sie könnte auf dumme Gedanken kommen, oder genauer: auf gescheite. „Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt“, sagte Marie von Ebner-Eschenbach. Und Elke Heidenreich weiß zu berichten, dass noch im 18.Jahrhundert in die Einbände mancher Romane Nadel und Faden eingelassen waren. So sollte die Frau daran erinnert werden, was ihre Aufgabe war: den Haushalt zu führen.

Was ist aber – ein Thema, zu dem in den letzten Jahrzehnten immer wieder geforscht wurde – mit den Autorinnen? Ruth Klüger hat auch hier eine ungewöhnliche These anzubieten. Eine Geschichte der Autorinnen habe völlig anders auszusehen als die Geschichte der Autoren: Denn während ein Großteil der deutschen Dichter und Philosophen dem protestantischen Bürgertum entstammte, steht am Beginn der weiblichen deutschen Dichtkunst das Kloster. Nonnen zogen sich hinter die Mauern zurück – und gewannen dort das Recht auf ein eigenständiges kulturelles Leben. Und während die Aufklärung den Mann intellektuell befreite, drängte sie die Frauen in manchen Bereichen sogar wieder zurück. „Einer Frau, die literarischen Ehrgeiz oder Talent hatte, boten sich im 13.Jahrhundert bessere Chancen als im 17., vor der Reformation bessere als nach der Reformation“, schreibt Klüger.

Ruth Klüger,
„Frauen lesen anders“,
Essays (1996), dtv, 235 Seiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2011)

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