Gesellschaft hinter den Fassaden erkunden

(c) Clemens Fabry
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Was in der Gesellschaft, im Alltag, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur geschieht, wird durchwegs aus der Perspektive der Interessen der Institutionen aufgezeichnet, protokolliert, dargestellt.

Wien. Das, was in der Gesellschaft, im Alltag, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur geschieht, wird durchwegs aus der Perspektive der Interessen der Institutionen aufgezeichnet, protokolliert, dargestellt. Es gibt in den genannten Bereichen jede Menge an Schrifttum, das jedoch nicht in kritischer oder selbstkritischer Absicht der Institutionen entsteht; ein Schrifttum, das vielmehr dazu beitragen soll, dass Institutionen funktionieren (Affirmationsrhetorik) – dabei spielt das demokratische Funktionieren eher eine untergeordnete Rolle.

Die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften arbeiten an einem ständig erweiterten und modifizierten Befund der Gesellschaft. Dieser „Befund“ ist in den letzten Jahrzehnten konstruktivistischer geworden. Es geht nicht mehr vorrangig darum, zu ermitteln „wie es eigentlich gewesen“, wie Leopold von Ranke im 19. Jahrhundert sehr emphatisch die Aufgabe der Geschichtswissenschaft beschrieben hat. Es geht für die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften heute vielmehr darum, das Geschehen als „Diskursgeschehen“ zu thematisieren. Das heißt, dass alles, was getan wurde und wird, im Geschehen, in den Handlungen und in der Überlieferung einen „Begleittext“ hat (Aussagen, Zwiegespräche, Telefongespräche manchmal mit Konferenzschaltung, Teambesprechungen, intime „wortarme“ Gespräche, E-Mails, Blogs, SMS, Protokolle und natürlich alle Texte der Zivilgesellschaft: Artikel, Essays, Glossen...).

Wo man hinschaut also Texte, die darüber Auskunft geben, wie in einer Gesellschaft über Sachverhalte gesprochen und verhandelt wird. Damit rückt gleichsam automatisch die Zielsetzung der „wahren Darstellung“ vom Zentrum an die Peripherie der Gesellschaftserkundung. Dass Gesellschaft weniger unter dem Gesichtspunkt des Faktischen, sondern unter dem des Diskurses gesehen wird, bedeutet zwangsläufig auch eine Relativierung, weil der Hinweis auf die unterschiedliche Bewertung von dem, was geschieht, auch die Konsequenzen, die aus einem Geschehen zu ziehen sind, weniger endgültig erscheinen lässt.

Die Kulturwissenschaften haben diesen Sachverhalt, dass Geschichte im wesentlichen Diskurs- und Textgeschichte ist, bewusst gemacht. Dort, wo sie sich als kritische Wissenschaften verstehen, beziehen sie ihre eigene Arbeit in die Text- und Sprachkritik ein: Sie sind „selbstreflexiv“, wie das entsprechende Stichwort in der Forschung heißt. Die Frage, wie bedeutend diese selbstreflexive Kraft, das heißt, die Möglichkeit und Fähigkeit zu (Selbst-)Kritik und Selbstreflexion in Gesellschaft und Wissenschaft, ist, entscheidet letztlich darüber, welchen Stellenwert und welche Bedeutung Demokratie und Zivilgesellschaft haben.

Ordnungen und Reglements

In geschlossenen Gesellschaften sind Öffentlichkeit und Selbstreflexion ja nur minimal ausgebildet, und es regieren „Dienstordnung“, „Hausordnung“, „Schulordnung“, strikte Verhaltensreglements etc. In offenen Gesellschaften muss ständig erkundet werden, was in der Gesellschaft tatsächlich geschieht, damit die offiziellen Ordnungen im Hinblick auf die Durchsetzung demokratischer Ordnungsprinzipien korrigiert werden können. Demokratie lebt also davon, dass es Instanzen (Personen, Institute, NGOs) gibt, die die Fähigkeit und Zielsetzung haben, „hinter die Kulissen“, „hinter die Fassaden“, „unter die Oberfläche“ zu schauen, die eine Art „Röntgenaufnahme“ des Geschehens bilden.

Es gibt einen fast unendlich anmutenden Aufdeckungsbedarf in der Gesellschaft, in der Politik, in der Wirtschaft. Das hängt damit zusammen, dass sich gegenwärtig Öffentlichkeit, unabhängige Medien, unabhängige Wissenschaft, unabhängige Bildung auf einem nicht freiwilligen Rückzug befinden. Die Gesellschaft wird grosso modo in eine Ges.m.b.H. verwandelt, und dementsprechend wird alles, was geschieht, unter ökonomischen Gesichtspunkten zum Produkt formiert, das profitabel vermarktet werden will.

Die Arbeit von Günter Wallraff, dessen Name ja bereits zu einem Lexikonbegriff („wallraffen“) für verdeckte Ermittlung und teilnehmende Beobachtung geworden ist, steht am Beginn dieser von den Wiener Vorlesungen gemeinsam mit der „Presse“ gestalteten Beilage zur Sozialreportage. Aktivierende Sozialforschung, Sozialreportage und teilnehmende Beobachtung und Analyse der Gesellschaft hatten und haben in Wien Tradition.

Recherche für die Betroffenen

Natürlich denkt man zuerst an die Sozialforschung von Marie Jahoda und die von ihr gemeinsam mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel verfasste thematisch und methodisch beispielgebende Studie über „Die Arbeitslosen von Marienthal“. Die Forscherinnen und Forscher wollten nicht, wie das vorher in der Soziologie üblich war, ihre Erkenntnisse sozusagen über die Köpfe der Betroffenen hinweg „nur für die Wissenschaft“ gewinnen, sondern im Sinn und im Dienst der untersuchten Arbeiterinnen und Arbeiter nützen.

Ein früher Vertreter der Gattung der Sozialreportage war in Wien Emil Kläger (1880–1936). Sein Buch „Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“, das mit „Original-Photographien von Gerichtssekretär Hermann Drawe“ versehen ist, erschien im Verlag von Karl Mitschke im Jahr 1908. Max Winter (1870–1937), Sozialreformer und Journalist, gestaltete seit 1895 kritische Sozialreportagen für die Arbeiterzeitung über das Leben des Wiener Proletariats. In diesem Zusammenhang möchte ich jedenfalls auch den „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch erwähnen, von dem gleichermaßen präzise, klare und lapidare Texte zur Ermordung von Rosa Luxemburg oder zur Moral des Reporters vorliegen.

Wenn über Qualitative Sozialforschung in und aus Wien gesprochen wird, muss man jedenfalls auch Roland Girtler nennen, der mit seiner in der Beilage vorgestellten Methode der teilnehmenden Beobachtung die soziale Welt der Sandler, der Prostituierten, aber auch jene der Wilderer, der Landärztinnen und Landärzte, der Pfarrersköchinnen, der Journalistinnen und Journalisten, der „feinen Leute“ u.a. erkundet hat.

Der Autor ist Professor für Sozial- und Kulturgeschichte und seit 1984 Wissenschaftsreferent der Stadt Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2011)

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