„Zehn Gebote der Feldforschung“: Roland Girtler skizziert, wie man den Zugang zum Thema findet.
„Suche daher zunächst Friedhöfe, Märkte, Wirtshäuser, Kirchen oder ähnliche Orte auf.“ Der Tipp, der sich unter Punkt 4 seiner Zehn Gebote findet, überrascht nicht wirklich, wenn man Roland Girtler kennt. Der emeritierte Soziologe von der Uni Wien kreist das Objekt (oder Subjekt) seiner Erkundung ein. „Auf dem Friedhof wird mir stets die Bedeutung bestimmter Familien, Verwandtschaften, Berufszweige im Dorf offenbar“, sagt er. Dann erst beginnt seine Detailerkundigung.
Mit dem Titel „10 Gebote der Feldforschung“ (LIT Verlag, Wien, 2004, kleines Format, 120 Seiten) erteilt Girtler jenen Forschern (auch Journalisten) eine Abfuhr, die glauben, binnen einer kurzen Recherche, einem Blitzbesuch sozusagen, schon das Wesen der aufgesuchten Materie erkannt zu haben. Die Gebote (gekürzt):
•1.Du sollst nach den gleichen Sitten und Regeln leben wie jene Menschen, bei denen du forschst.
•2.Du sollst zur Großzügigkeit und Unvoreingenommenheit fähig sein, um Werte zu erkennen und nach Grundsätzen zu urteilen, die nicht die eigenen sind.
•3.Du sollst niemals abfällig über deine Gastgeber reden und berichten.
•4.Du sollst dir ein solides Wissen über die Geschichte und die sozialen Verhältnisse der dich interessierenden Kultur aneignen.
•5.Du sollst dir ein Bild von der Geografie der Plätze und Häuser machen, auf und in denen sich das Leben abspielt.
•6.Du sollst das Erlebte mit dir forttragen und darüber möglichst ohne Vorurteile berichten. Daher ist es wichtig, ein Forschungstagebuch zu führen.
•7.Du sollst die Muße zum „eroepischen“ (freien) Gespräch aufbringen. Die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden.
•8.Du sollst dich bemühen, deine Gesprächspartner einigermaßen einzuschätzen. Sonst kann es sein, dass du hereingelegt oder bewusst belogen wirst.
•9.Du sollst dich nicht als Missionar oder Sozialarbeiter aufspielen.
•10.Du musst eine gute Kondition haben, um dich auf dem Acker, in stickigen Kneipen, in der Kirche, in noblen Gasthäusern wohlzufühlen. ewi
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2011)