Frankreich: Die Banlieue bleibt ein Pulverfass

Frankreich Banlieue bleibt Pulverfass
Frankreich Banlieue bleibt Pulverfass(c) AP (THIBAULT CAMUS)
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Ähnlich wie in Großbritannien wurden in Frankreich soziale Brennpunkte 2005 und 2007 von gewalttätigen Jugendrevolten erschüttert. Von Sarkozys "Plan Hoffnung Banlieue" wurde allerdings vieles nicht umgesetzt.

Myriam war erst einmal in Paris. Es war ein Tagesausflug mit der Schule vor ein paar Jahren. Den Eiffelturm hat sie damals gesehen und bei McDonald's auf den Champs-Élysées war sie auch. Nun mag so ein einmaliges Erlebnis nicht ungewöhnlich sein für eine 17-Jährige. Myriam aber wohnt gerade einmal 15 Kilometer von Paris entfernt. Und doch in einer anderen Welt, die mit dem glamourösen Bild der Weltstadt wenig zu tun hat.

Ihr Heimatort Clichy-sous-Bois ist einer der besonders verrufenen Vororte, eine Banlieue, wie sie 2005 und 2007 traurige Berühmtheit erlangte: Jeweils im Herbst wurden soziale Brennpunkte in ganz Frankreich von heftigen Unruhen erschüttert. Überwiegend junge Aufständische lieferten sich gewalttätige Straßenschlachten mit Polizeikräften. 2005 rief Präsident Jacques Chirac den Notstand aus, der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy drohte donnernd, er werde die Vorstädte mit dem „Kärcher“ vom Gesindel säubern. Tausende Autos brannten, bürgerkriegsähnliche Szenen spielten sich ab.

Tod durch Stromschläge. Szenen, wie sie in den vergangenen Tagen auch in Großbritannien stattfanden. Ähnlich wie im Londoner Stadtteil Tottenham war auch in Frankreich der Auslöser der Tod junger Menschen bei Konflikten mit der Polizei: In Clichy-sous-Bois starben im Oktober 2005 Bouna und Zyed, 15 und 17 Jahre alt, an Stromschlägen, weil sie sich auf der Flucht vor einer Kontrolle in einem Transformatorhäuschen versteckt hatten. Auch das Ausmaß der Gewaltbereitschaft der britischen Randalierer und die Gründe dafür erinnern an die Unruhen in den Banlieues. „Wie 2005 sitzen wir auf einem Pulverfass“, warnt der sozialistische Regionalpolitiker Stéphane Troussel. Ein Funke genüge, es zu entflammen.

Dabei herrscht träge Sommerruhe in Clichy-sous-Bois. „Gestern und vorgestern waren hier Kamerateams“, erzählt Myriam und deutet auf einen unbelebt wirkenden Gebäudekomplex mit einigen Läden, der das nicht vorhandene Stadtzentrum ersetzt. Jetzt, in den Schulferien, trifft sie sich hier mit ihren Freunden. Journalisten bringen willkommene Abwechslung, wenn sie auch oft nicht gern gesehen sind in Clichy-sous-Bois, das infolge der negativen Berichterstattung noch mehr den Stempel eines Problemvororts trägt. Private TV-Teams sollen Jugendliche damals sogar dafür bezahlt haben, vor der Kamera Krawall zu machen. Diesmal wollten sie aber nur wissen, ob sich seit den Unruhen hier etwas verbessert hat, sagt Myriams Freundin Ayşe. Hat es das? Die junge Frau zuckt mit den Achseln. „Was soll sich schon ändern? Sobald ich kann, will ich weg von hier.“

Vielleicht muss sie das auch, um überhaupt einen Job zu finden. Die Arbeitslosenquote liegt in den Banlieues deutlich über dem Landesschnitt, bei den unter 25-Jährigen erreicht sie teilweise mehr als 40 Prozent. Eine einschlägige Heimatadresse genügt, um zu Bewerbungsgesprächen gar nicht erst eingeladen zu werden, ein ausländisch klingender Name tut oft sein Übriges. Die explosive Mischung aus Chancenlosigkeit, prekären Lebensbedingungen und dem Gefühl der Ausgrenzung führten hier 2005 und 2007 zu der Revolte derer, die nichts mehr zu verlieren hatten.


Sarkozys „Plan Hoffnung Banlieue“.
Viel gewonnen haben sie seither nicht. Zwar kündigte Präsident Sarkozy im Februar 2008 einen „Plan Hoffnung Banlieue“ mit Ideen zu Städtebau, Ausbildung, Fördermaßnahmen an. Es gibt Beratungsstellen, Sportvereine und Kulturtreffs. Einige der Elitehochschulen haben Quoten für sozial benachteiligte Studenten eingeführt. Und doch wurde vieles nicht umgesetzt, beklagt der auf Sozialprobleme spezialisierte Journalist Luc Bronner. „Die Wirtschaftskrise stellte die Kandidaten in die Warteschlange der Arbeitslosen. Und die liberalen Versuche stießen sich am Ausmaß der sozialen und ethnischen Ausgrenzung in unserem Land.“ Im Land der Gleichheit sind diejenigen mit Migrationshintergrund auch dann nicht gleich, wenn sie einen französischen Pass besitzen. Das betrifft die große Mehrheit der Bewohner sozialer Brennpunkte.

Zeichen für Veränderung könnten allerdings die Baustellen in der 30.000-Einwohner-Stadt sein, die geprägt ist von trostlosen Plattenbauten und heruntergekommenen Häuschen, einst gebaut für die vielen Wanderarbeiter, die mit ihren Familien aus Portugal, Westafrika und dem Maghreb kamen und später, infolge der Desindustrialisierung massenweise arbeitslos wurden. Weil der Staat diese Ghetto-Bildung und das Wohnelend als eine der Problemursachen erkannt hat, investiert er inzwischen Milliarden in den Abriss alter Gebäude, den Bau und die Renovierung neuer Sozialwohnungen. Schön werde diese Stadt aber nie sein, sagt Rentnerin Claire, die seit mehr als 40 Jahren hier lebt. „Aber neuerdings sieht man Blumenkästen an den Fenstern.“

Neu ist auch das Polizeikommissariat. Denn obwohl Clichy-sous-Bois an einer der höchsten Kriminalitätsraten Frankreichs leidet, gab es keine Polizeiwache, als die Unruhen hier ausbrachen. Nun setzt man auf regelmäßige Patrouillen durch Beamte, die den Ort und seine Bewohner kennen, statt auf Spezialtrupps, die kommen, wenn es schon brennt. Entscheidend ist für Bürgermeister Claude Dilain allerdings der Weg aus der Isolation – der sozialen, die bei der geografischen beginnt. Clichy-sous-Bois hofft auf einen Anschluss an die Pariser Metro ab 2020 und eine Straßenbahn bis 2015. Noch hakt es an verwaltungstechnischen Details. Denn obwohl Paris lediglich 15 Kilometer entfernt liegt, ist man mangels direkter Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln eineinhalb Stunden unterwegs – in eine Richtung. So treten Jugendliche wie Myriam den Weg gar nicht erst an und bleiben in ihrer abgeschiedenen Welt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2011)

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