Egal, was die PLO letztlich bei der UN-Vollversammlung tut: Eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Palästinenser wird sie nicht erreichen, eher im Gegenteil. Im schlimmsten Fall drohen neue blutige Unruhen.
Jerusalem. Am fehlenden Platz wird es nicht liegen, wenn die Palästinenser bei der nächste Woche beginnenden UN-Generalversammlung nicht UN-Mitglied werden. Denn den Sitz - ein hellblauer Sessel mit der Aufschrift „Palestine" - hat Riad Mansour, der palästinensische Botschafter bei den Vereinten Nationen, in einer symbolischen Aktion am Donnerstag schon vorsorglich im Glaspalast am East River vorbeigebracht.
Und Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas zeigte am Freitagabend Härte: Er werde im UN-Sicherheitsrat die UN-Vollmitgliedschaft eines Palästinenserstaates beantragen. Das sei das „legitime Recht" der Palästinenser, bekräftigte er in einer Rede, die vom Fernsehen übertragen wurde.
Sollten die Palästinenser wirklich wie angedroht einen Antrag an den UN-Sicherheitsrat richten, wird ihnen ein US-Veto den Weg versperren. Auch EU-Staaten wie Frankreich, Großbritannien (mit Vetorecht) oder Deutschland (ohne) wollen verhindern, dass es zur Abstimmung im Sicherheitsrat kommt. Sie warnen vor den unabsehbaren Folgen unilateraler Schritte und versuchen fieberhaft, die Palästinenser zu einem gemäßigteren Vorgehen zu überreden.
„Fünf Minuten vor Torschluss"
Zweimal binnen weniger Tage war EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in die Region gereist, Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle traf mit Abbas zusammen und in Jerusalem mit Israels Premier Benjamin Netanjahu, das Weiße Haus schickte den langjährigen Nahost-Vermittler Dennis Ross für einen allerletzten Versuch, Abbas vom Gang in den Sicherheitsrat abzubringen.
„Wir sind für alle Vorschläge offen", sagte Mohammad Shtayyeh, ein enger Berater von Abbas, zu den diplomatischen Bemühungen. Schade sei nur, dass das erst „fünf Minuten vor Torschluss passiert". Mit dem Abgang des früheren Nahost-Gesandten George Mitchell zogen sich die USA fast komplett aus der Region zurück.
Laut der palästinensischen Zeitung „Al-Hayat" wird Abbas vor der UNO auch zur Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen mit Israel aufrufen, bei denen die Kernthemen, darunter der Status Jerusalems, innerhalb von sechs Monaten behandelt werden sollten. Der UN-Antrag stehe einer Wiederaufnahme von Verhandlungen nicht im Wege.
Auch Israel will Verhandlungen. Dass es dazu nicht kommt, liegt am Siedlungsbau. Die Palästinenser fordern das Einfrieren jeder Bautätigkeit im Westjordanland, Israel hält der internationalen Kritik zum Trotz daran fest. Noch im August hat die Regierung den Bau neuer Häuser in Ostjerusalem angekündigt, was Ashton sehr bedauerte. „Die Siedlungsaktivität bedroht die Realisierbarkeit einer vereinbarten Zweistaaten-Lösung und untergräbt die andauernden Bemühungen um eine Wiederaufnahme von Verhandlungen", schimpfte die EU-Außenbeauftragte in ungewohnter Deutlichkeit.
Israels Regierung bleibt unbeweglich und rückt den Staat in ein immer gefährlicheres internationales Abseits. Die Türkei reduzierte die diplomatischen Beziehungen auf ein Minimum. In Kairo jagte der antiisraelische Mob den israelischen Botschafter buchstäblich in die Flucht. Es rumort fast an allen Fronten, und das, noch bevor die Demonstrationen begonnen haben, die an den Grenzkontrollpunkten und rund um die Siedlungen im Westjordanland zu erwarten sind. Überall werden schon jetzt Plakate und palästinensische Fahnen verteilt. Die Rede, die Abbas am 23. September vor der UNO halten will, soll auf Leinwand in den palästinensischen Städten übertragen werden. Egal, wie sich die PLO letztlich entscheiden wird - dem palästinensischen Volk wird es an Gründen zur Frustration und zum Aufstand nicht mangeln.
USA könnten Geldhahn zudrehen
Möglich sind zwei Szenarien: Die PLO zieht entgegen ihrer Ankündigungen doch nur vor die UN-Generalversammlung und wird in ihrem Wunsch auf Anerkennung des Staates Palästina unterstützt. Damit würden sich völkerrechtlich für die Palästinenser freilich kaum Vorteile ergeben.
Die zweite Möglichkeit ist, dass die PLO wie Abbas nun erneut androhte, tatsächlich vor den Sicherheitsrat zieht, um sich mit dem sicheren Veto der USA eine Absage zu holen. Die Konsequenz wären ein offener Konflikt mit dem Weißen Haus und die Kürzung wenn nicht der Stopp der finanziellen Hilfen. Die Autonomiebehörde bezieht umgerechnet rund 400 Millionen Euro jährlich aus den USA. Ein Zahlungsstopp wäre katastrophal, die Behörde kann jetzt schon kaum die Gehälter zahlen.
Eine unmittelbare Verbesserung der palästinensischen Lebensverhältnisse ist keinesfalls zu erwarten, im Gegenteil. Die Frustration der Menschen in Westjordanland und Gazastreifen wird sich Luft machen. Angesichts der langen Eiszeit im Friedensprozess und den aufregenden Entwicklungen in den Nachbarländern wäre es fast ein Wunder, wenn die Proteste unblutig blieben.
PRO
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas kann mit einem positiven Votum in der UN-Generalversammlung im internen Machtkampf mit der radikal-islamischen Hamas punkten.
Der internationaler Druck auf Israel würde steigen, zu substanziellen Verhandlungen zurückzukehren. Ob die Regierung sich davon beeindrucken lässt, ist freilich eine andere Frage.
Die Bemühungen der palästinensischen Regierung, im Westjordanland staatliche Strukturen aufzubauen, würden bestätigt. Auch durch eine bloße Aufwertung zum „beobachtenden Nicht-Mitgliedstaat“.
KONTRA
Die Gefahr einer neuen Gewalteskalation ist real: Proteste der Palästinenser könnten außer Kontrolle geraten, auf der anderen Seite aber auch radikale Siedler weiter Öl ins Feuer gießen.
Die Zahlungen an die Autonomiebehörde durch Israel könnten eingestellt werden, und noch mehr: Israel drohte damit, alle bestehenden Verträge mit den Palästinensern zu kündigen.
USA und Europäer werden gezwungen, mit einem UN-Votum für eine Seite Stellung zu beziehen. Das jedoch will niemand tun.
Präsident Abbas hat bezüglich der Folgen des UN-Votums bei den Palästinensern Erwartungen geweckt, die nicht zu erfüllen sind.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2011)