Krastew: „In Bulgarien hat das Wort Krise jegliche Bedeutung verloren"

(c) Teresa Zötl
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Der Politologe Iwan Krastew erklärt im Gespräch mit der "Presse", warum das EU-Schuldenschlamassel das Land kaum beunruhigt.

Die Presse: Wie beurteilen Sie die Kandidaten für die Präsidentenwahl?

Iwan Krastew: Allein das Faktum, dass die Bulgaren zwischen einem erfolgreichen Minister - Rossen Plewneliew -, der ersten EU-Kommissarin Meglena Kunewa und dem proeuropäischen Sozialisten Iwailo Kalfin wählen können, ist ein Erfolg für die bulgarische Demokratie. Vor fünf Jahren hatten sie die Wahl zwischen dem nicht europäischen Gesicht der Sozialisten und einer radikalen nationalistischen Partei.


Premier Borissow hat seinen besten Minister in den Ring geschickt. Ist die Personaldecke in seiner Partei so dünn?

Ich glaube, er hat bis zum letzten Moment mit dem Gedanken gespielt, ob er nicht selbst als Kandidat antreten soll. Als Politiker ist Borissow extrem talentiert, er hat die Politik im Blut, er weiß, was zu tun ist. Das Amt des Präsidenten passt zu seiner Persönlichkeit: Die bulgarische Verfassung erlaubt es, dass sich der Präsident als Kritiker von Parteien und Institutionen positioniert. Andererseits weiß er, dass niemand sonst die Regierung zusammenhalten könnte.


Beide Politiker, Borissow und Plewneliew, präsentieren sich als „Männer der Tat". Was zeichnet sie als Politikerpersönlichkeiten aus?

Sie kommen nicht aus der privilegierten urbanen Mittelschicht, aus der sich die politische Elite bisher gespeist hat. Sie sind zwei Kids aus Kleinstädten und haben die soziale Ambition von Emporkömmlingen: Sie wollen es den anderen zeigen. Den sozialen Aufstieg haben sie sehr unterschiedlich vollzogen. Borissow ist der typische Held der Transformationszeit mit all den Problemen und dem dazugehörigen Charme. Plewneliew ist der deutsche Junge: Er ist nach Deutschland gegangen, hat dort Karriere gemacht und hält sich stets an die Regeln.


In Bulgarien wurde seit der Wende von 1989 noch jede Regierung abgewählt. Wie erklären Sie sich das?

Auf diese Weise hat die bulgarische Demokratie überlebt. Man tauscht die Leute aus, kann aber einen bestimmten demokratischen Konsens erhalten. Das Problem ist, dass dadurch die Institutionen und das Vertrauen in sie nicht gestärkt wurden. Resultat des Abwählens ist außerdem die hohe Rotation von Menschen an der Macht. Der Balkanreisende Konstantin Jireček schrieb im 19. Jahrhundert: In Bulgarien ist ein jeder ein früherer, derzeitiger und zukünftiger Minister. Dies trifft auch heute zu.


Könnte sich das nun ändern? Borissow könnte bei den Parlamentswahlen 2013 sogar wiedergewählt werden.

Es ist zu früh für eine Prognose. Es könnte gelingen - Tusk hat in Polen eine Wiederwahl geschafft. Protestwählerverhalten deutet darauf hin, dass man glaubt, etwas ändern zu können. Was sich in Bulgarien in der Krise befindet, ist genau dieses Gefühl.


Bulgarien steht als neues EU-Mitglied noch immer am Rande Europas. Wie erlebt man von hier aus die Eurokrise?

Bulgarien hat sehr stark auf die EU gesetzt. Aber nun sind wir „lost in space". Früher existierte die Vision: Wir werden Mitglied in der EU und das ist das Ende der Krise. Nun sind wir in der EU und alle reden von der Krise. Doch in Bulgarien hat das Wort Krise jegliche Bedeutung verloren - wir haben in den letzten 20 Jahren einfach zu viel darüber geredet. Dass sich Europa in zwei Geschwindigkeiten entwickelt, und Bulgarien bei der langsamen Partie dabei ist, wird von den politischen Eliten oder Medien nicht diskutiert. Uns fehlt noch die europäische Identität.


Fühlt man mit dem Nachbarn Griechenland mit, der derzeit in so einer misslichen Lage ist?

Mit Griechenland fühlen in Bulgarien wenige Solidarität - eher Schadenfreude: Wir wollen, dass die Griechen verstehen, wie wir uns die letzten 20 Jahre gefühlt haben.


Kann die Regierung in der angespannten Situation mit ihren Wirtschaftsreformen überhaupt Erfolg haben?

Bulgarien ist, was Griechenland sein sollte. Es ist ein Modellland, was Budgetdefizit und Budgetdisziplin betrifft. Aber es ist noch immer das ärmste EU-Land und in vielem dysfunktional. Fiskalpolitisch setzt die Regierung auf Stabilität, aber zum Preis einer sehr niedrigen wirtschaftlichen Aktivität. Man glaubte, dass Bulgarien von den Investoren bemerkt werden würde. Aber Bulgarien ist ein derart kleiner Markt, das Land hängt von der Entwicklung der EU ab, der Großteil der Exporte geht dorthin. Nun wartet die Politik ab und hofft, dass es in Europa wieder besser laufen wird. Und die EU ist uns dankbar, weil wir keine Probleme schaffen.
Der Bulgare Iwan Krastew ist Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).

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