Ägypten: Das große Demokratie-Experiment

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aegypten grosse DemokratieExperiment(c) AP (Amr Nabil)
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Wenn am Montag das erste frei gewählte ägyptische Parlament zusammentritt, werden Islamisten dominieren. Dass man sich in Kairo am saudischen Modell orientiert, ist aber nicht zu erwarten.

Kairo. Es ist so etwas wie der ultimative Test, ob Islamisten und Demokratie zusammenpassen: Denn wenn am Montag, fast ein Jahr nach dem Aufstand gegen Expräsident Hosni Mubarak das erste frei gewählte ägyptische Parlament zusammentritt, werden jene, die Religion als wichtigsten Referenzrahmen der Politik sehen, die meisten Sitze einnehmen. Sie stellen fast drei Viertel der 498 Abgeordneten.

Wahlsieger ist erwartungsgemäß die vergleichsweise gemäßigte, dennoch islamistische „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ (FJP) der Muslimbruderschaft, die 47 Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Überraschend ist dagegen der Erfolg der „el-Nour“-Partei (Das Licht, Anm.) der ultra-islamistischen Salafisten: Sie erhielt ein Viertel der Stimmen. Den Rest teilen liberale und säkulare Parteiblöcke wie jener des koptischen Telecom-Tycoons Naguib Sawiris und die alteingesessene liberale „Wafd“-Partei (bedeutet „Delegation“, Anm.) mit je neun Prozent. Der Block „Die Revolution geht weiter“, die wichtigste Parteigründung der Aktivisten vom Tahrir-Platz, kam nur auf zwei Prozent. Schlecht schnitten trotz großer finanzieller Möglichkeiten auch die Vertreter des alten Regimes ab.

Das Alte ist also zumindest im Parlament weggefegt worden. Bleibt die Frage, wie die islamistischen Parteien die Politik gestalten werden. Zunächst vermutlich nicht gemeinsam. Die Gruppen sind einander spinnefeind, warten mit konkurrierenden Konzepten auf, welche Rolle der Islam in der Politik spielen soll. Schwebt den Muslimbrüdern eine türkische Variante als moderne islamistische Partei vor, träumen die aus den Golfstaaten finanzierten Salafisten von einem Ägypten à la Saudiarabien.

Land versinkt in Problemen

Saad El-Katani, nominierter Parlamentspräsident der FJP, ist für eine Annäherung an die liberalen Parteien: „Wir brauchen kein islamisch-islamisches Parteienbündnis, das das Land polarisiert“, erklärt Muhammad El-Beltagi, Chef der Kairoer FJP, im Gespräch mit der „Presse“: „Wir streben eine möglichst breite Teilnahme anderer Parteien an der Lösung der Probleme des Landes an“, sagt er.

Und Probleme sehe er mehr als genug, und zählt seine Prioritäten auf: „Wir brauchen eine nationale Versöhnung, um gemeinsam ein Gremium zu schaffen, das die neue Verfassung ausarbeitet. Dann müssen wir uns um die Opfer dieser Revolution kümmern, eine unabhängige Justiz fördern, die die Verfahren gegen die Vertreter des alten Regimes zügig durchführt, ein Mindestgehalt durchsetzen, um sozialer Gerechtigkeit näherzukommen. Die Korruption muss ausgemerzt werden, und wir müssen uns nicht zuletzt um die Arbeitslosigkeit und um die Versorgung der Bevölkerung mit Brot, Kochgas und Benzin kümmern“, lautet die Mammutliste.

Das Wort Scharia fällt erst auf Nachfrage: „Der Westen versteht Scharia nur als drakonische Strafen, für mich ist deren oberstes Ziel, Würde und soziale Gerechtigkeit zu erreichen“, sagt El-Beltagi, der zu den aufgeklärtesten Vertretern der Muslimbruderschaft zählt. Säkularist ist er aber keiner: „Ohne Religion kann es kein Erneuerungsprojekt in Ägypten geben.“

Für Emad Gad vom Al-Ahram-Zentrum für Strategische Studien ist der Spielraum für islamistische Experimente begrenzt: „Ägypten kann nur im Konsens regiert werden“, glaubt er. Über zehn Millionen Ägypter seien Christen, die wichtigste Einkommensquelle der Tourismus: „Da kann man nicht den Leuten vorschreiben, was sie zu essen oder trinken haben“, sagt er. „Die Muslimbrüder haben die Last der Verantwortung. Wenn sie es nicht richtig machen, werden sie bei den nächsten Wahlen viel weniger Stimmen haben“. Den Vorwurf, nach dem Wahlsieg die Scharia einführen und die Bürgerrechte einschränken zu wollen, lässt El-Beltagi nicht gelten. „Wir glauben an einen demokratischen Staat, Rechtsstaatlichkeit, Bürger- und Menschenrechte.“ Die Zeiten seien vorbei, in denen man den Ägyptern etwas Undemokratisches aufzwingen könne.

Schläge für die Sittenpolizei

Die ersten Versuche der Salafisten, ein saudisches Modell einzuführen, sind gescheitert. Etwa, als eine informelle „Sittenpolizei“ einen Schönheitssalon stürmen wollte und die selbsternannten Moralsheriffs von den Frauen mit Schuhschlägen aus dem Laden getrieben wurden, bevor sich Passanten auf der Straße ihrer noch etwas gewalttätiger annahmen.

„Die Ägypter mögen keinen Extremismus“, glaubt Politologe Gad. Der beste Garant gegen Taliban-Experimente sei das Heer der Armen und Bildungslosen in den Armenvierteln und am Land, obwohl die aus Frömmigkeit oft die Salafisten wählten: „Diese Leute“, glaubt Gad, „wollen Spaß am Leben und werden sich von keinem verbieten lassen, laut Musik zu hören und bei Hochzeiten auf der Straße mit Verwandten und Nachbarn zu tanzen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2012)

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