Die erste Sitzung des frei gewählten Parlaments in Ägypten verlief turbulent. Saad al-Katatni von der Muslimbruderschaft wurde zum Vorsitzenden des Parlaments gewählt.
Kairo. „Dieses Parlament ist eine der Forderungen der Revolution“, heißt es auf einem Transparent, das Demonstranten hochhalten, während die 498 Abgeordneten an ihnen vorbeiziehen. Sie kommen zur ersten Sitzung des frei gewählten Parlaments, um vereidigt zu werden und einen Parlamentssprecher zu wählen. Als größte Partei zieht die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei FJP der Muslimbruderschaft mit 47 Prozent der Stimmen ins Parlament, gefolgt von der ultra-islamistischen Salafistenpartei El-Nour, deren meist bärtige Vertreter ein Viertel der Sitze einnehmen. Den Rest teilen sich liberale und säkulare Parteien.
Das Parlament hat am Montag Saad al-Katatni von der Muslimbruderschaft zum Vorsitzenden gewählt. Während einer turbulenten Sitzung erhielt Katatni 399 von 496 abgegebenen Stimmen. Der 59-Jährige war bisher Generalsekretär der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit.
Zwei Prozent Frauen im Parlament
Insgesamt haben es nur zehn Frauen in das Parlament geschafft, also zwei Prozent der Abgeordneten. Weltweit liegt der Schnitt von weiblichen Abgeordneten bei 19 Prozent, in der arabischen Welt bei 13 Prozent.
„Wir werden diese Revolution hier und auf der Straße fortführen“, erklärt Mustafa Naggar, einer der liberalen Abgeordneten vor dem Parlamentstor. Er wolle zunächst eine Kommission bilden, die mit dem Militärrat aushandelt, dessen Macht an eine zivile Autorität zu übergeben. Damit spricht Naggar gleich eines der größten Probleme des neuen Parlaments an. Der Streit um Kompetenzen ist vorgezeichnet, zwischen den gewählten Abgeordneten, die nun die Gesetze schreiben sollen und der nicht gewählten Militärführung, die seit dem Sturz Mubaraks bis zu den Präsidentschaftswahlen im Juni die Exekutivmacht ausübt. Einige der Abgeordneten trugen gelbe Schärpen mit der Aufschrift, „Nein zu Militärgerichten gegen Zivilisten“. Mindestens 12.000 Personen wurden seit dem Sturz Mubaraks bei Schnellverfahren vor Militärgerichten verurteilt.
Wichtigste Aufgabe des Parlaments wird es sein, Mitglieder für ein Gremium zu bestimmen, das die neue Verfassung ausarbeiten wird. Amr Schobaki, einer der liberalen Abgeordneten, hat gleich am ersten Tag einen langen Aufgabenkatalog mitgebracht: „Wir müssen das Innenministerium auf neue Beine stellen, die Subventionen überprüfen, damit sie kleinen und mittleren Projekten zugutekommen.“ Bildungs- und Gesundheitssysteme müssten reformiert werden. „Wir brauchen eine weitere Revolution, um die staatlichen Institutionen neu aufzustellen. Das wird schwer, aber wir wollen zeigen, dass wir ernsthaft beginnen.“
Turbulente Vereidigung
Drinnen geht es kurze Zeit später ziemlich turbulent zu. Schon bei der mehrere Stunden andauernden Ablegung des Eides jedes einzelnen Abgeordneten kam es zu ersten Unterbrechungen, als Mamdouh Ismail, ein Mitglied der Nour-Partei, seinen Eid auf die Republik und Verfassung mit dem Zusatz versah, „solange das nicht dem Gesetz Gottes widerspricht“. Der als ältester Abgeordneter kommissarische Parlamentssprecher Mahmud El-Sakka forderte ihn darauf unter Applaus des Parlaments auf, den Eid ohne Zusatz zu wiederholen. Ismail kam dem nach und bezeichnete seinen Zusatz als „persönliche Meinung“. Andere Abgeordnete schmückten ihren Eid daraufhin ebenso mit Zusätzen aus, etwa, dass sie sich der Revolution oder den Märtyrern der Revolution verpflichtet sähen.
Auch bei der ersten Entscheidung des Parlaments in der neuen demokratischen Ära, der Wahl des Parlamentspräsidenten, kam es zu tumultartigen Szenen, nachdem sich der kommissarische Präsident weigerte, den Kandidaten zur Vorstellung Rederecht zu gewähren. Einer von ihnen, Essam Sultan von der liberal-islamischen Wasat-Partei, erklärte, dass man in den vergangenen 30 Jahren diskussionslos einen Parlamentspräsidenten bestimmt habe, dass diese Zeiten aber mit der Revolution vorbei sein sollten.
Muslimbruder als Vorsitzender?
El-Sakka gewährte den Kandidaten daraufhin ein kurzes Rederecht, im Anschluss sollte abgestimmt werden. Als Favorit galt bis zuletzt der von der Freiheit- und Gerechtigkeitspartei nominierte Saad El-Katatni. Sollte er wie erwartet das Rennen machen, hätte das ägyptische Parlament nach drei Jahrzehnten Herrschaft von Hosni Mubarak erstmals einen Muslimbruder als Vorsitzenden.
Auf einen Blick
Mit 47 Prozent der Stimmen zieht die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei FJP der Muslimbruderschaft als stärkste Kraft ins Parlament ein, gefolgt von der ultra-islamistischen Salafistenpartei El-Nour mit rund 25 Prozent.
Den Rest teilen sich liberale und säkulare Parteien. Insgesamt haben es nur zehn Frauen in das Parlament geschafft, das sind zwei Prozent der Abgeordneten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2012)