„Das größte Problem ist die psychische Gesundheit“

(c) AP (Koji Sasahara)
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Das Szenario einer breit und hoch verstrahlten Bevölkerung ist nicht eingetreten, im Gegenteil: Niemand starb an der Radioaktivität, niemand erkrankte.

15.844 Menschen sind gestorben, am Erdbeben und seiner ersten Folge: dem Tsunami. Die zweite Folge hingegen, die Reaktorkatastrophe, forderte bisher nicht ein Opfer, es ist auch niemand erkrankt, darüber sind sich alle Experten einig. „Vom direkten Einfluss auf die Gesundheit her war die Strahlung vernachlässigbar“, erklärt Richard Garfield (Columbia University): „Sie wird sehr wenige Tote fordern, wohl keine.“ „Ich habe auf meinen Flügen von Washington nach Tokio eine höhere Strahlung erhalten als auf dem Reaktorgelände“, ergänzt John Boice (Vanderbilt University).

Das liegt daran, dass die freigesetzte Radioaktivität weit geringer war als die in Tschernobyl: Dort explodierte der Reaktorkern und setzte mit einem Schlag das – nicht ummantelte – radioaktive Inventar frei. In Fukushima hingegen hielt der Mantel, relativ wenig radioaktives Material – etwa ein Fünftel von dem in Tschernobyl – geriet in die Luft, auch sie nicht auf einen Schlag, sondern langsam. Und gnädige Winde trieben das meiste auf das Meer. Zudem zeigte die japanische Regierung, anders als beim Managen des Unfalls selbst, bei der Evakuierung Umsicht: Nur 10.000 Menschen kamen in erhöhte Strahlung, nur 73 bekamen über 10 Millisievert ab – ein durchschnittlicher US-Amerikaner erhält ganz ohne jeden Unfall 6,5 im Jahr. Das könnte die Krebsraten minimal erhöhen, man schätzt, dass 20 Millisievert das Sterberisiko um 0,002 Prozent steigern (20 Millisievert pro Jahr sind auch in vielen Ländern der Grenzwert für Beschäftigte in der Atomindustrie). Gezeigt hat sich bisher nichts, auch nicht an den 360.000 Kindern der Fukushima-Präfektur, die seit letzten Sommer von einem Team um Siji Yasumura (Fukushima University) auf Schilddrüsenkrebs untersucht wurden, der droht als Erstes, durch radioaktives Jod.

Einen Unsicherheitsfaktor gibt es: Es ist weithin unbekannt, wie viele „hot particles“, strahlende Staubteilchen, in der Luft sind. Sie könnten in die Lunge eindringen, mit bösen Langzeitfolgen.

Aber nicht einmal bei denen, die die gefährlichste Arbeit zu tun hatten – in den Reaktoren ausharren und aufräumen –, haben sich die ersten Befürchtungen bewahrheitet. Demnach drohte akute Strahlenkrankheit, und die beginnt – mit Kopfweh und Schwindelgefühl –, wenn jemand über sehr kurze Zeit mehr als einem Sievert ausgesetzt ist. Die Menschen in den Reaktoren bekamen nur geschätzte 500 bis 600 Millisievert ab.

Ist also alles gut gegangen? „Das größte Problem ist die psychische Gesundheit“, erklärt Yasumura: Ungewissheit und Stress ließen bei der Evakuierung die Zahl der Sterbefälle unter den älteren Menschen stark steigen. Und der Druck ist nicht vorbei: Selbst wer wieder ein Obdach und Arbeit gefunden hat, sieht sich oft stigmatisiert, und nicht nur sich: Die Bauern werden ihre Ernten nicht mehr los, auch wenn sie unbedenklich sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2012)

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