Nachruf: Helmut Kohl, der "schwarze Riese"

Archivbild: Helmut Kohl genießt das Bad in der Menge.
Archivbild: Helmut Kohl genießt das Bad in der Menge.(c) AFP (MARK-OLIVIER MULTHAU)
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Der langjährige deutsche Kanzler (1982 bis 1998) ist nicht zufällig als Vater der Wiedervereinigung in die Geschichte eingegangen. Er hatte als Historiker ein Gespür für das Momentum, in dem sich die Welt wandelt.

Helmut Kohl hat seinen Platz in deutschen und europäischen Geschichtsbüchern schon viele Jahre vor seinem Tod eingenommen. Er war ein Ausnahmepolitiker, ein strategisches Talent und ein beherzter Machtmensch. Die Behäbigkeit, die dem großgewachsenen Pfälzer von Parteifreunden gerne nachsagte wurde, konnte er in eine beachtliche Kontinuität ummünzen. 25 Jahre lang, von 1973 bis 1998, war er Vorsitzender der deutschen Christdemokraten. Im Vergleich: Die ÖVP verbrauchte im selben Zeitraum sechs Parteichefs.

Der Kanzler der deutschen Einheit war, wie seine Weggefährten erzählen, ein Politiker, der in seinem Beruf Erfüllung fand, der diesen Beruf aber auch auskostete – in stundenlangen Diskussionen bei gutem Wein, klassischer Musik und deftigem Essen. Bill Clinton wird sich dieser Tage an einen Bundeskanzler erinnern, der mit ihm 1994 in Washington eine Nacht lang im italienischen Restaurant „Filomena“ gegenüber saß, um leidenschaftlich über aktuelle und historische Themen zu diskutieren.

Kühler Machtmensch, einfühlsamer Diplomat

So widersprüchlich wie Kohl selbst war, so war auch sein Werdegang. Er war ein kühler Machtmensch, aber auch ein einfühlsamer Diplomat. Einer, der sich scheinbar nicht von der Stelle bewegte, und einer, der in der Gunst der Stunde unheimlich rasch reagieren konnte. Seine Geschichte ist eine Abfolge von Krisen, Misserfolgen, Durststrecken, Etappensiegen und großen Durchbrüchen.

Wer ihn am Ende seiner Kräfte glaubte, wurde meist eines Besseren belehrt. So schien er internen Gegner in der CDU in den 1980er und 1990er Jahren schon mehrfach ein Auslaufmodell. Doch Kohl bewies innerhalb der eigenen Partei, in der Regierung und auch als Europapolitiker seine Steherqualitäten. An ihm zerbrachen Schicksale. Er selbst aber gewann im politischen Überlebenskampf fast immer an Stärke. Dieses Phänomen können auch jene bestätigen, die ihn am Rande von EU-Gipfeltreffen erlebten. Zum Beispiel in Dublin 1996, als er den ganzen Tag über in schwierige Verhandlungen zum Euro-Stabilitätspakt gesessen hatte. Kohl kam kurz nach Mitternacht sichtlich gezeichnet zum angesetzten Kamingespräch mit deutschen und österreichischen Journalisten. Er sackte erschöpft in einen Sessel.

Kohl schien gezeichnet, blickte mit blutunterlaufenen Augen in die Runde. Doch dann, als sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtete, aktivierte er auf geheimnisvolle Weise neue Reserven, saß schon nach wenigen Minuten später wieder aufrecht in seinem Lehnstuhl und holte zu großen Visionen aus. Eben erst war die Währungsunion fixiert worden – sein großes Werk –, da drängte er bereits zum nächsten Thema: den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Politik zur inneren Sicherheit. „Das wird das Zukunftsthema werden“, prophezeite er und hatte Recht.

Europäer in der Tradition von Kontrad Adenauer

Helmut Kohl hatte stets Visionen – allen voran die europäische Integration und die von seinem Vorbild Konrad Adenauer begonnene Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Ohne Helmut Kohl gäbe es heute mit großer Wahrscheinlichkeit keine Währungsunion, vielleicht nicht einmal die staatliche Einheit Deutschlands. Gerade er, der äußerlich so träge wirkte, hatte ein Gespür für historische Momente – und wie sie zu nutzen sind.

Hätte im Frühjahr 1989 jemand dem damaligen Bundeskanzler der Bundesrepublik die Wiedervereinigung innerhalb weniger Monate vorausgesagt, hätte er ihn wohl aus seinem Bonner Regierungssitz gejagt. Aber der zu diesem Zeitpunkt innenpolitisch schwer angeschlagene Kohl tat dennoch im entscheidenden Jahr das instinktiv Richtige. Er nutzte eine schwere Schuldenkrise in der DDR aus, die Abhängigkeit des Ostens zu erhöhen. Mit seiner engen Beziehung zu US-Präsident George Bush bereitete er das Feld für die Wende vor – freilich noch nicht einmal selbst ahnend, was dann tatsächlich möglich wurde. Das Urteil, Kohl sei die Wiedervereinigung vor die Füße gefallen, ist so nicht haltbar. Während beispielsweise sein Rivale SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine noch Monate nach dem dem Fall der Mauer eine Zwei-Staaten-Lösung anvisierte, legte der CDU-Vorsitzende bereits die Schienen zu einem gemeinsamen Staat.

Geschichte geschieht, sie ist nicht immer planbar. Dass ist Deutschland und ganz Europa am Tag des Falls der Berliner Mauer, dem 9. November 1989, vor Augen geführt worden. Zufälle und Missverständnisse trugen dazu ebenso bei, wie der Wille einer Masse von Menschen in der DDR. Innerhalb von Stunden zerbrach ein auf Repression basierendes Staatsmodell.

Kohl war in Warschau gerade auf dem Weg zu einem Abendessen mit Polens Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, als ihm aus Bonn die überraschende Ankündigung des DDR-Politibüromitglieds Günter Schabowski überbracht wurde, allen Bürgern umgehend die Ausreise zu ermöglichen. Eben erst hatte ihm der polnische Gewerkschaftsführer Lech Walesa darauf angesprochen, wie er denn gedenke, auf eine Öffnung der Mauer zu reagieren. Kohl hatte nur den Kopf geschüttelt, vor seiner Entourage die Augen gerollt. „Jetzt redet der schon vom Fall der Mauer.“ Irgendwann während des Abendessens in Warschau berichtete ein aufgeregter Mitarbeiter des Auswärtigen Amts per Telefon nach Polen, dass Menschen auf der Mauer tanzten.

Zuerst erhielt er Pfiffe, dann wurde er gefeiert

Helmut Kohl reagierte rasch. Schon wenige Stunden später flog er nach Berlin, sprach vor dem Rathaus: „Es ist ein historischer Augenblick für Berlin und für Deutschland. Wir alle stehen vor einer Bewährungsprobe.“ Seine Rede wurde von Pfiffen begleitet. Die Skepsis vieler Landsleute war groß, dass er der Richtige in diesem heiklen Moment sei. Doch Kohl bestand diese Herausforderung. Schon wenige Monate später wurde er als „Kanzler der Einheit“ gefeiert. Die Pfiffe verstummten. Es war ihm letztlich nicht nur gelungen, den sowjetischen Staatspräsidenten Michael Gorbatschow umzustimmen, sondern die Wiedervereinigung auch gegen den Willen einiger europäischer Partner – allen voran der britischen Premierministern Margaret Thatcher – durchzusetzen.

Helmut Kohl hat Rechtswissenschaften und Geschichte studiert. Vor allem sein historisches Studium prägte ihn. Die deutsche Einheit war für Kohl immer die eine Seite der Medaille, die andere war die politische Einigung Europas. Schon frühzeitig sprach er von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Er sah die Notwendigkeit des gemeinsamen Markts, einer gemeinsamen Währung nicht bloß aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern auch aus historischer Verantwortung.

Als er seinen 15. Geburtstag gefeiert hatte, war gerade der Zweite Weltkrieg zu Ende. Er hatte seinen Bruder verloren. Die Verbrechen des Hitler-Regimes an Juden und politischen Gegnern, die Kriegsniederlage und der daraus folgende wirtschaftliche Zusammenbruch formten den Sohn eines Finanzbeamten aus Ludwigshafen. Er hat diese Erlebnisse immer wieder in seinen Gesprächen mit Regierungs- und Staatschefs erwähnt und damit seiner Politik Glaubwürdigkeit verschafft.

Während sein größer Konkurrent, CSU-Vorsitzender Franz-Josef Strauß, das Land auf einen wirtschaftsliberalen, rechten Kurs bringen wollte, setzte Kohl stets auf Ausgleich und die politische Mitte. Diese Positionierung war ihm selbst näher und sie war wahltaktisch auch erfolgreicher. Nachdem Strauß 1980 als Kanzlerkandidat mit dem bis dahin schlechteste Wahlergebnis der Christdemokraten scheiterte, konnte Kohl seine Machtbasis festigen. Er führte die Unionsparteien zurück an die Regierung und öffnete sich selbst den Weg ins Kanzleramt.

Völliger Rückzug ins Privatleben

Seine Persönlichkeitsstruktur war für Weggefährten stets eine Herausforderung. Das gilt für seine Familie ebenso wie für engste Mitstreiter – allen voran für Wolfgang Schäuble, seinem ehemaligen Kronprinz in der CDU, aber vielleicht noch mehr für seine Frau Hannelore, die sich 2001 das Leben nahm. Kohl war nicht nur der warmherzige Familienmensch, den er bei seinen vierwöchigen Urlauben in St. Gilgen am Wolfgangsee gerne zur Schau stellte. Er war auch der einsame Stratege, dem es oft an Empathie für seine engste Umgebung fehlte.

Zuletzt hatte sich der Kanzler der Einheit von all denen zurückgezogen, die sein Leben begleitet hatten. Er lebte mit seiner zweiten Frau Maike Richter von der Öffentlichkeit abgeschirmt in seinem Haus in Ludwigshafen-Oggersheim. Mit seinen Söhnen Peter und Walter hat er gebrochen. Nur einmal noch wagte er 2014 einen öffentlichen Aufruf zur Rettung des (seines) europäischen Projekts. „Aus Sorge um Europa“ hieß der dünne Band, mit dem er ein letztes Mal versuchte, die Geschichte zu beeinflussen. Es war aber auch eine Abrechnung mit jenen, die sich heute „erschreckend rückwärtsgewandt, erschreckend unhistorisch“ dem europäischen Einigungsprozess entgegensetzten.

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