Die Krise hat Deutschlands Führungsrolle freigelegt

Abstruse Nazi-Vergleiche sind die schrille Begleitmusik zu dem Faktum, dass Berlin ins Zentrum Europas gerückt ist. Das löst Unbehagen aus, aber auch Erwartungen.

Originell ist die antideutsche Hetze nicht. Nach den griechischen holen nun auch italienische Boulevardblätter abgedroschene Nazi-Vergleiche aus der Mottenkiste hervor, um Deutschlands Europolitik zu geißeln. „Heil Angela“, titelte unlängst „Il Giornale“, eine Gazette aus Silvio Berlusconis Medienimperium. Auf dem dazugehörigen Foto war natürlich zu sehen, wie die deutsche Kanzlerin die rechte Hand hebt. Und im Leitartikel fantasierte ein irrlichternder Kommentator, dass Italien nicht länger in Europa liege, sondern im „Vierten Reich“.

Zur zweifelhaften Ehre, als neue Führerin verunglimpft zu werden, hatte der deutschen Regierungschefin diesmal Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, verholfen. Der oberste europäische Währungshüter, ein Italiener, hatte es gewagt, den Kauf italienischer Staatsanleihen durch die EZB nicht völlig bedenken- und zügellos in Aussicht zu stellen, sondern an – ohnedies unbestimmte – Reformauflagen zu knüpfen. Doch das war für die überreizten Gemüter in Berlusconis Redaktionsstube schon eine derartige Zumutung, dass sie in ihrer Empörung über Draghi und die dahinter vermutete teutonische Spargesinnung zur Nazi-Keule griffen.

Merkel ist den Kummer gewöhnt. Seit mittlerweile drei Jahren wird die Kanzlerin regelmäßig als Europas Zuchtmeisterin beschimpft, weil sie und ihr Finanzminister mit abnehmendem Erfolg darauf hinweisen, dass es langfristig vielleicht nicht unklug wäre, das eine oder andere Schuldenloch zu stopfen, bevor wieder neue aufgerissen werden. Es ist eine seltsame Erwartungshaltung, die da in den verschuldeten Ländern im Süden Europas kultiviert wird und sich ungefähr so ausnimmt: Deutschland und die letzten halbwegs liquiden Eurostaaten mögen mit beiden Händen in ihre Kassen greifen und die Zeche für andere zahlen, ohne davor Fragen oder gar Bedingungen zu stellen. Denn zu retten sei der Euro nur, wenn Berlin bleche und grünes Licht fürs Gelddrucken gebe, anstatt kleinlich an währungspolitischen Stabilitätsvorstellungen festzuhalten.

In Wirklichkeit hat Merkel unter dem Druck der Krise ein Prinzip nach dem anderen aufgeweicht und sich immer wieder zu Zugeständnissen breitschlagen lassen. Längst kauft die EZB Staatsanleihen, längst hat Europa den Weg zu einer Schuldenunion eingeschlagen. Doch auch in eingeknicktem und eingeweichtem Zustand wird Merkel als hartherzige, sparwütige und verbohrte Prinzipienreiterin verteufelt. Trotzdem trifft sie der Zorn vieler Griechen, Italiener und Spanier, die unter Arbeitslosigkeit oder Budgetkürzungen leiden. Ganz so, als ob Merkel mit einem Handgriff alles wiedergutmachen könnte, wenn sie nur ihre deutsche Schatztruhe öffnete.

Doch das Unbehagen hat nicht nur irrationale Ursachen. Die Krise hat Deutschlands Führungsrolle in Europa deutlicher als bisher freigelegt. Und damit hat nicht nur Berlin selbst, sondern auch der Rest des Kontinents seine Probleme. Deutschland ist als Wirtschaftsmacht gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Während Frankreich schwächelt und Italien, Spanien oder Griechenland horrende Aufschläge für ihre Anleihen zahlen müssen, bewegen sich die deutschen Zinsen seit Monaten auf äußerst niedrigem Niveau. Das weckt Neid, ebenso wie die deutsche Exportkraft.


Das deutsche Modell löst Bewunderung aus. Doch das Vorbild kann schnell ins Feindbild umschlagen. So wie das bei Klassenbesten ist, die sich meist auch keiner besonderen Beliebtheit erfreuen. Wie es Merkel auch anstellt, sie wird immer kritisiert werden. Im neuen Europa wird, wie es übrigens im vergangenen Herbst ausgerechnet der polnische Außenminister Radek Sikorski als Erster ganz offen verlangt hat, von Deutschland Führung erwartet. Zögert Merkel, so wird sie dafür gescholten. Doch wenn sie Führungsrolle annimmt, ruft sie erst recht germanophobe Kritiker auf den Plan.

Mildern kann Merkel das Dilemma nur, indem sie auftrumpfendes Verhalten vermeidet und möglichst harmonisch in das europäische Orchester eingegliedert bleibt. Beides versucht sie. Umso schriller und abstruser muten die dümmlichen Nazi-Vergleiche an, denen Merkel zwischen Athen und Rom permanent ausgesetzt ist.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2012)

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