Wahlbeobachter rügen Kiew

(c) REUTERS (ANATOLII STEPANOV)
  • Drucken

Einen Tag nach der Parlamentswahl in der Ukraine spricht die OSZE von einem "Rückschritt im demokratischen Prozess". Die EU dürfte ihre harte Haltung in Sachen Assoziierungsabkommen vorerst beibehalten.

Kiew/Brüssel/Wien. „Ich bin sehr enttäuscht, dass ich Ihnen heute traurige Nachrichten überbringen muss.“ Mit diesen Worten begann Walburga Habsburg Douglas am Montag ihre Stellungnahme in Kiew. Die schwedische Politikerin und jüngste Tochter von Otto von Habsburg leitete die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Einen Tag nach der Parlamentswahl in der Ukraine, in der die regierende Partei der Regionen von Präsident Viktor Janukowitsch als führende Kraft bestätigt worden war, fällte die OSZE ihr Urteil über den Urnengang. Es war mit Spannung erwartet worden, da es als Wegweiser für die weitere Annäherung des Landes an die EU gilt.

Lange Liste an Kritikpunkten

Die Kritik war ausführlich und ungewöhnlich scharf, das Lob für die Behörden rasch zusammengefasst: Wiewohl der Wahltag „friedlich“ abgelaufen sei und in Wahllokalen und bei der Stimmauszählung grundsätzlich keine Übertretungen festgestellt worden seien, beurteilte Habsburg Douglas im Namen der Wahlbeobachter die Organisation des Urnengangs „negativ“ und als „Rückschritt im demokratischen Prozess“.

Timoschenkos Ausschluss „sehr unfair“

Die internationalen Beobachter erklärten, dass „Wähler von ihrem Arbeitgeber und staatlichen Organen nicht eingeschüchtert werden“ sollten. Weiters seien administrative Ressourcen missbräuchlich verwendet worden, die Finanzierung des Wahlkampfs sei „nicht transparent“ gewesen, die Medienberichterstattung unausgewogen. Explizit erwähnte die OSZE auch den Fall der inhaftierten früheren Premierministerin Julia Timoschenko sowie den des ehemaligen Innenministers Jurij Lutsenko, der nach einem umstrittenen Prozess ebenfalls im Gefängnis sitzt. Ihr Ausschluss von der Wahl sei per se „sehr unfair“, erklärte Habsburg Douglas.

Andreas Gross von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (Pace) fügte an: „Die ukrainischen Bürger haben bessere Wahlen verdient.“ Ähnliches dürften sich auch viele ukrainische Bürger gedacht haben, die erst gar nicht zur Stimmabgabe erschienen. Die Wahlbeteiligung lag laut zentraler Wahlkommission bei knapp 58 Prozent.

Abstand zu Opposition vergrößert

Hatte es nach den ersten Nachwahlbefragungen am Sonntagabend noch danach ausgesehen, als wäre eine Mandatsmehrheit für die Opposition in Reichweite, vergrößerte sich im Laufe des Montags der Abstand zwischen Regierung und Opposition.

Nach einer Auszählung von 70,1 Prozent der Stimmen lag die Partei der Regionen mit 33,4 Prozent an erster Stelle, gefolgt von der Vereinigten Opposition von Julia Timoschenko (23 Prozent). Die Politikerin erklärte gestern, wegen der „Wahlfälschungen“ in Hungerstreik zu treten. Auf dem dritten Platz landeten die Kommunisten mit 14,5 Prozent, auf Platz vier – schlechter als in Umfragen erwartet – die Partei Udar (Schlag) von Boxweltmeister Vitali Klitschko mit 13,2 Prozent. Auch die Ultranationalisten von Swoboda (Freiheit), die vor allem in der Westukraine und unter Auslandsukrainern punkteten, werden als fünfte Kraft in das neue Parlament einziehen. Swoboda, Udar und Timoschenkos Allianz wollen künftig zusammenarbeiten. Dass dies den Beteiligten nicht leichtfallen wird, klang bereits gestern in ersten Wortmeldungen an.

Trotz des Achtungserfolges der Oppositionskräfte dürften Janukowitschs Blaue, deren Hochburg in der Ostukraine liegt, das neue Parlament dominieren. Sie streben eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten und den etwa 50 unabhängigen Mandataren an, die in Direktwahl in die Kiewer Werchowna Rada gewählt wurden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Partei der Regionen mit ihren Verbündeten auf mehr als die Hälfte der insgesamt 450 Sitze – und damit auf die Mehrheit im Parlament – kommt.

Europas Angst vor zweitem Weißrussland

Im Verhältnis zur EU ändert das Wahlergebnis voraussichtlich nichts. Seit Timoschenko verhaftet worden ist, sind die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen und ein umfassendes Freihandelsabkommen eingefroren. Die Europäer sind in einer taktischen Zwickmühle: Sollen sie die Abkommen, die Handelserleichterungen und finanzielle Hilfe nach sich ziehen, vorantreiben und das Regime in Kiew damit zu rechtsstaatlichen Reformen zu verpflichten versuchen? Oder würde Janukowitsch so einen Verhandlungserfolg 2015 in der Kampagne um seine Wiederwahl als Präsident erst recht propagandistisch ausschlachten?

Für eine Annäherung plädieren die europäischen Sozialdemokraten, die seit 2010 mit Janukowitschs Partei kooperieren. Hannes Swoboda, der SP-Fraktionschef im Europaparlament, nannte die Wahl „legitim und ordentlich“, sie habe zudem „die Erwartungen der meisten Kritiker übertroffen“. Die Politikwissenschaftlerin Amanda Paul vom European Policy Centre in Brüssel rät der EU zu einer differenzierten Vorgangsweise: Man sollte das Assoziierungsabkommen unterzeichnen, Kiew also die Hand entgegenstrecken, und dann Janukowitsch mit dem Verweis auf den Unwillen einiger nationaler Parlamente in der EU, dieses Abkommen auch zu ratifizieren, die Rute ins Fenster stellen. Was niemand will, ist eine Wiederholung des weißrussischen Traumas: Das Regime in Minsk ist von der EU fast komplett isoliert, zeigt aber keine Einsicht – sondern nähert sich im Gegenteil politisch immer stärker an Russland an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Kommentare

Kiews fatales Hasch-mich-Spiel

Im "Niemandsland" zwischen EU und Russland läuft der Ukraine die Zeit davon – doch Kiew gibt sich ahnungslos.
UkraineWahl Janukowitsch liegt klar
Außenpolitik

Ukraine: Janukowitsch holt Sieg bei Parlamentswahl

Die Partei von Präsident Janukowitsch liegt mit 34 Prozent voran. Boxweltmeister Klitschko schafft den Einzug ins Parlament. Wahlbeobachter orten einen "Missbrauch von Macht".
Besteht Ukraine Demokratietest
Außenpolitik

Besteht Ukraine den Demokratietest?

Bei der gestrigen Parlamentswahl siegte laut inoffiziellen Exit-Polls das Regierungslager. Entscheidend ist auch, ob der Urnengang als "frei und fair" beurteilt wird.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.