Hausgeschichten: Herrengasse 6-8

Raffiniert entzieht sich das erste Wiener Hochhaus den Blicken. Seine architektonische Strenge und seine Hausgemeinschaft ziehen Mieter in die Herrengasse.

Es liegt in der Natur eines Hochhauses, dass es im Stadtbild kaum zu übersehen ist. Auf jenes in der Herrengasse 6–8 trifft das nicht zu. Es gibt nur wenige Punkte in Wien, von wo aus man den Bau mit der Stufenpyramide und den zwei Innenhöfen wirklich gut erspäht. BEHF-Architekt und Bewohner Stephan Ferenczy schätzt den Blick von der Burggasse aus: „Wenn man etwa auf der Höhe des Hotels Sans Souci an der Ampel steht, sieht man den getreppten Turmaufbau. Man erkennt, wie sich der Bau über die Hofburgdächer entwickelt, man hat einen schönen Kontext mit dem Volksgarten und den großen Museen.“

Die Unsichtbarkeit der Ikone aus dem Jahr 1932 scheint durchaus intendiert, meint Architektin Judith Eiblmayr, die ihr Büro im ersten Stock betreibt. „Es sollte natürlich ein Hochhaus werden, aber es durfte auch niemanden – wie man auf Wienerisch sagt – genieren“, schrieb sie in ihrem mit der Architekturkritikerin Iris Meder verfassten Buch „Haus hoch“, das 2009 eine breitere Aufmerksamkeit auf das Gebäude lenkte, wenn nicht einen kleinen Hype auslöste. In den Dreißigerjahren traten die Architekten Siegfried Theiß und Hans Jaksch mit ihrem Gegenentwurf zu den Bauten des Roten Wien an: Wohnungen für Weltbürger, für den christlich-sozial orientierten Junggesellen sollten hier entstehen, ein Vorzeigeprojekt in bereits wirtschaftlich schlechten Zeiten, ein Statement der Moderne, ein kompakter Körper mit Stahlskelett – das erste Hochhaus („Hochhäusel“ lästerten Zeitgenossen) von Wien. Dass sich das Haus „in seiner völlig unprätentiösen klaren Architektur gehalten hat“ begeistert Eiblmayr, die das an der Bauweise und am Respekt vor der massiven Substanz festmacht.

Wohnen wie Oscar Werner

Als Ferenczy vor elf Jahren in seine Wohnung im neunten Stock zog, „wo man schon über die Dächer kratzt“, wirkte die Herrengasse ausgestorben: „Da wollte fast niemand im ersten Bezirk wohnen.“ Heute haben sich Nachfrage und Frequenz rund ums Haus stark gewandelt, wie Andrea Jäger, die die Flächen in der Immobilie exklusiv vermittelt, bestätigt.

Dieses Interesse ist, ungeachtet der zentralen Lage in der Wiener Innenstadt, einerseits der architektonischen Qualität geschuldet, die man (wieder) erkennt, andererseits dem sozialen Gefüge der Bewohner und Benutzer. In den weit über 200 Wohnungen und Büros residieren und arbeiten Architekten, Ärzte, Schauspieler, Verleger, Dichter, Angestellte. Zu den Berühmtesten zählten Curd Jürgens, Susi Nicoletti, Oskar Werner oder Gusti Wolf. Es gibt ältere Mieter, die hier schon vor Jahrzehnten eingezogen sind, und es gibt junge, urbane, die Funktionalismus und den internationalen Style schätzen. „Es ist eine gute Wohngemeinschaft“, sagt Jäger. Und auch Sibylle Hamtil, die mit ihrem Metro Verlag in der vierten Etage eingezogen ist, nachdem das oben beschriebene Buchprojekt sie auf die Idee gebracht hat, schätzt den „Mikrokosmos“ eines Hauses, in dem sich viele Menschen zumindest vom Sehen kennen. Besonders mag sie die Fahrten mit dem Expresslift, die Geräuschkulisse der Wohnungen und dabei die Rücksicht aller auf die Hellhörigkeit des Hauses. Die Auswahl ist durchaus selektiv, es wird darauf geachtet, dass neue Mieter zueinanderpassen. Und man hat ein Auge darauf, wer hier ein- und ausgeht: „Wie durch einen Flaschenhals müssen alle am Portier vorbei. Die Loge ist immer besetzt, auch in der Nacht“, schätzt Architektin Eiblmayr das Weltläufige am Haus.

Manche Bewohner leben hier keineswegs auf so großen Flächen, wie man es erwarten würde: Die Wohnung eines Magazinmachers im vorletzten Stock misst nur 50 Quadratmeter, die Hälfte der Geschoßfläche des Turms, der bis in die Sechzigerjahre ein Restaurant war. Die vielen kleinen Wohnungen sind ja ohne Küche geplant worden, der betuchtere Single, die berufstätigen jungen Leute konnten sich dort versorgen lassen.

Bei aller Modernität, die Theiß & Jaksch walten ließen, trägt der Bau konservative Züge: Ferenczy macht das an den Grundrissen der größeren Wohnungen im Sockel fest: „Sie waren bürgerlich, mit Dienstbotenzimmern hinter den Küchen und ,gefangenen‘ Räumen. Man gelangt etwa vom Salon in das Schlafzimmer.“ Mittlerweile wurden kleine Wohnungen auch zusammengelegt – „nicht größer als 120 Quadratmeter. Bis auf ein, zwei Ausnahmen auf Stiege eins, wo man am nobilitiertesten wohnt“, erklärt Jäger.

Refurbishment und Espressostyle

Wenn Wohnungen frei werden, lassen die privaten Eigentümerinnen, zwei Schwestern, sie auf den letzten Stand bringen. Zuletzt hat BEHF einige Einheiten refurbisht, wobei das Bundesdenkmalamt ein Wort mitredet. „1932 war es ja schon aufregend, überhaupt ein WC in der Wohnung zu haben. Heute aber müssen ein Wirtschaftsraum mit Waschmaschinenanschluss oder ein Schlafzimmer mit Schrankraum möglich sein.“ So entkernte Ferenczy manche Räume, plante neu, „mit dem Anspruch, dass alles lange hält“. Etwa quadratische weiße Fliesen als „Zitat an die Verlegeart der 1930er-Jahre“ oder Glaswände, die mehr Licht in mögliche Büroräume ließen. Sein Büro plante auch die Sanierung des kleinen Rondells vor dem Eingang zur Lobby. Der Geist der 1950er waltet nun in dieser von „Unger und Klein“ betriebenen Vitrine. Sonst änderte sich am Erscheinungsbild nahezu nichts.

Haus mit Geschichte

„Haus hoch“ von Iris Meder/Judith Eiblmayr wird im Sommer 2013 vom Metro Verlag wieder aufgelegt. www.metroverlag.at

Dimension: 22.000 m 2, acht Stiegen, über 225 Wohnungen und Büros (40 m2 über 90 m2 bis 120 m2), 16 Stockwerke (inkl. Aufbau)

Refurbisments von BEHF, www.behf.at

Wohnungen: www.immobilienjaeger.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2013)

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