Tomas Visek: "Ich bin der Marathonmann"

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Marathonmann(c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Zehn Läufer haben es geschafft, bei allen Wien-Marathons seit 1984 das Ziel zu erreichen. Tomas Visek, 79, ist einer von ihnen. Er flüchtete aus der ČSSR, lehnte Spionage ab und avancierte vom Hilfsarbeiter zum Geschäftsführer.

Wenn du laufen willst, lauf eine Meile, wenn du aber ein neues Leben kennenlernen willst, dann lauf einen Marathon.“ Diese Worte von Emil Zátopek, der tschechischen Leichtathletik-Legende, sind für viele Läufer rund um den Globus ein Antrieb. Vor allem dann, wenn sie vor der Herausforderung über 42,195 Kilometer stehen, werden seine Aussagen gern in die Waagschale geworfen. Der für seinen Laufstil als „Lokomotive“ bekannte Zátopek galt als Vorbild in vielerlei Hinsicht. Seine Rennen und Olympiasiege sind unvergessen, ebenso sein Widerstand gegen die Kommunisten.

Auch für Tomas Visek war Zátopek das Idol. Dank ihm hat er mit dem Laufsport begonnen. Auch die regimefeindliche Haltung imponierte dem Tschechen in den 1960er-Jahren ungemein. Und es veränderte Viseks Leben schlagartig: Als 33-Jähriger flüchtete er aus der ČSSR nach Österreich. Er riskierte 1968 sein Leben, um den Sowjets, ihren Panzern und dem Kommunismus zu entkommen.


Der „schwarze Briefkasten“. Er ließ Familie und Freunde zurück und lernte nach der Flucht ein neues Leben in Wien kennen. Er lebte die Worte seines Idols vor. Seine Laufschuhe zog er nicht mehr aus, es sollte auch nicht nur bei einem einzigen Rennen bleiben. Heute bestreitet Tomas Visek, 79, seinen 30. Wien-Marathon. Er war seit 1984 bei jeder Auflage dabei und kam, wie nur neun andere Starter auch, immer ins Ziel. Dass alle zehn Läufer auch bei der Jubiläumsauflage mitmachen, versteht sich von selbst.

„Ich habe die Kommunisten immer gehasst“, erinnert sich der 79-Jährige und erzählt, wie der Polit-Apparat seiner Herr werden wollte. Er war ein talentierter Motorradfahrer, „ein PS-Halbprofi“, der für seine Erfolge aber nicht finanziell oder mit Wohnungen und Posten entlohnt wurde, sondern mit Rädern. Vier Speedway-Bikes erhielt er vom Staat, obwohl er Probleme mit der Staatspolizei hatte und, wie jeder andere auch, fortlaufend bespitzelt wurde. Visek wunderte sich, doch er bemerkte die tückische List. Er wurde mit dieser Förderung nicht nur bei Laune gehalten und zugleich „bespitzelt, weil ich als feindlich bekannt war. Sie wollten mich als Spion anwerben!“

Wer mit seinen schnellen Erzählungen Schritt hält, wähnt sich sofort in einem Torberg-Roman. Anekdoten, wie sie in der „Tante Jolesch“ stehen, herzhaft geschildert, und trotz des schaurigen Hintergrunds mit viel Charme und Schmäh wiedergegeben. Visek sollte, weil er mit einer Tante in Graz und seiner Mutter als Halb-Österreicherin rot-weiß-rote Wurzeln hatte, Flüchtlinge ausspionieren. „Ich sollte die ,schwarzen Briefkästen‘ in Österreich betreuen“, legt er die damalige Order gegenüber der „Presse“ offen. „Ich sollte Flüchtlinge ausspionieren, Informationen über sie in Briefen festhalten und diese für Agenten verstecken. Das hätte ich aber nie getan.“

Als er 1968 um die einmal pro Jahr erlaubte Reise ins Ausland ansuchte, gaben ihm die Beamten grünes Licht. „Ich konnte fahren, aber ohne Auto und ohne Begleitung. Diese eine Woche war eigentlich als Belohnung gedacht.“ Das war es für ihn auch. Er ist in Österreich geblieben.


Keine Privilegien. In Wien angekommen begab sich der gelernte Maschinenbauer auf Jobsuche. Vier Tage lang „bettelte ich um eine Stelle“, sagt Visek. „Ich habe die HTL absolviert, wurde aber wegen meiner politischen Einstellung nie Diplomingenieur. Ich begann in Wien als Hilfsarbeiter in einem Magazin. Ich kehrte den Boden.“

Er ist sich, und auf diese Aussage legt Tomas Visek gesondert Wert, als Flüchtling nicht zu schade gewesen, klein anzufangen. Wolle man etwas erreichen, müsse man ja immer zuerst unten anfangen und sich dann immer und immer wieder ein „bissal“ höher arbeiten. „Als Bankdirektor fangen nur die Privilegierten an“, dachte er sich, als er Ecken kehrte und Hilfsdienste verrichtete – obwohl er noch in Prag, „meiner alten Heimat“, als angesehener Entwicklungsingenieur in der Forschung von Dieselmotoren gegolten hatte.

Bei den Saurer-Werken in Simmering aber fand Visek schließlich den Arbeitsplatz, bei dem er sich verwirklichen konnte. Zehn Jahre, nachdem die Steyr-Daimler-Puch-Werke den Konzern aufgekauft hatten, erhielt er das Angebot, das Unternehmen in Steyr zu leiten. Es war die Initialzündung seiner Karriere. Die Integration war längst vollzogen – mit Freunden, einem sicheren Umfeld und einer neuen Liebe, die bis heute blüht. Ohne politisches Zutun, ohne Spitzel, ohne Apparat. „Wir haben Motoren entwickelt, ich habe 25 Patente eingereicht und zuletzt sogar auch noch als CEO von Avia in Prag gearbeitet“, grinst der ehemalige Flüchtling. „Ich habe alles erreicht.“ Dass sein Werk „vor ein paar Monaten an die Chinesen verkauft“ worden ist, quittiert der Pensionist mit einem breiten Lächeln. Kommunismus und Kapitalismus hätten ähnliche Muster...


Aus Titan. Das Leben sei ein einziges Rennen, sagt Tomas Visek, und weiterhin begleiten Humor und Sprachwitz jede seiner Erinnerungen. Wer viel arbeite, sagt er, müsse sich doch auch bewegen. Erholung, Gesundheit, Sport, das seien doch wichtige Errungenschaften der Freiheit, des Alltags. Er habe das immer getan. Ein „bissal“ Tennis spielen, das versuchte er früher beim Cricketer-Club. Oder Skifahren, „das macht man doch so in Österreich“, dachte er sich in den 1980er-Jahren und durch seine Frau lernte er auch das Land, den Langlauf, die Ramsau und das Dasein als Oberösterreicher kennen, lieben und schätzen.

Tomas Visek „ist immer in Bewegung“, wie seine geliebten Motoren. Der Begriff der Aufgabe scheint dem 79-Jährigen tatsächlich fremd. Ein Marathon bestehe für ihn aus drei Dritteln. Im ersten, plaudert er drauf los, „ist er ein Spaziergang“. Im zweiten schaue er schön langsam auf die Uhr „und die Konkurrenz“. Im dritten sei es nur noch ein „heavy Job“. Da müsse er sich „wirklich zusammenreißen“. Sein Körper schmerze, vor allem Beine und Füße würden brennen. Er sei ja keine 16 mehr, wirft er ein, sondern 79. Dass er seit fünf Jahren ein künstliches Knie hat, eine Prothese aus Titan, schildert er in etwas leiserem Ton. Freunde, Familie und Ärzte hätten ihn nämlich für „vollkommen bescheuert“ erklärt, dass er sich weiterhin diesen Torturen gezielt aussetze. „Mein Knie funktioniert doch“, sagt er. Er laufe ja auch viermal pro Woche eine Stunde entlang der Enns. Und jetzt, wo er denn schon so weit gekommen sei, höre er nicht so einfach auf. Das komme wirklich nicht infrage.


30 Mal 42,195 Kilometer. Einen Marathon zu bestreiten, das ist für viele schon das Höchste aller Gefühle. Einmal diese ominösen 42,195 Kilometer zu bewältigen, sich zu überwinden, zu quälen und mit letzter Kraft ins Ziel zu laufen, ist das einzige Bestreben. Es vielleicht ein zweites, oder warum denn nicht, eventuell ein drittes Mal zu wagen, ist für jeden nachvollziehbar. Aber 30, und damit alle Auflagen des Wien-Marathons zu begehen, ja, das übertrifft auch Viseks Planungen.

Damit habe er nie gerechnet. Es habe sich eben ergeben, so wie sich alles nun einmal im Leben ergibt, weil jede Aktion ihren Sinn, vielleicht auch eine Bestimmung habe. Mehrmals sei er nach dem Zieleinlauf auf dem Boden gelegen, habe „gekotzt“ oder sei orientierungslos durch das Areal gestolpert. Aber er habe dabei immer dieses Wohlsein, das Gefühl echter Freude, verspürt. Manchmal allein, oft mit Freunden und Weggefährten, die mit ihm die letzten Meter bestritten hätten. „Das Leben ist manchmal ein bissal anders“, sagt Visek und lacht verschmitzt. 08/15 gebe es in allen Bereichen täglich, 42,195 Kilometer seien aber etwas Spezielles, sagt er. Dass er der Älteste im Felde ist, sei nur ein Nebeneffekt des Alters. Unter sechs Stunden schafft er die Strecke allemal. „Als Zwanzigjähriger hast du noch mehr Testosteron, Männer sind ja manchmal auch Angeber. Ein bissal ist mir davon immer noch geblieben.“

Tomas Visek will es zwar nicht so direkt zugeben, doch womöglich schließt sich für ihn mit dem Wien-Marathon Jahr für Jahr ein Kreis und damit auch die Erinnerungen an seine Vergangenheit. 1984, bei Wiens Premiere und seinem ersten Start, war ein gewisser Emil Zátopek als Ehrengast geladen. Visek, mittendrin in der Masse von knapp 700Läufern, konnte ihn nur aus der Ferne sehen. Dass er es aber, auf seine Art und Weise, dem Idol hat gleichtun können, erfüllt ihn mit Stolz. Vom Kommunismus ist nichts übrig geblieben, Tomas Visek läuft immer noch. Heute ist er in Wien einer unter 41.000 Läufern, die ihren Weg durch die Stadt suchen. Er ist der „Doyen der Dauerbrenner“. Und jeder seiner Schritte erzählt eine eigene Geschichte.

Club 30

Wien feiert zehn »Dauerbrenner«
Zehn Läufer bestritten seit 1984 alle Wien-Marathons, sie erreichten stets das Ziel: Alfred Biela, Wilhelm Böhm, Bernhard Bruckner, Herbert Christian, Franz Gschiegl, Rainer Kalliany, Michael Reichetzeder, Gerhard Tomeczek, Tomas Visek und Erwin Reichetzeder. Sie sind im „Club 30“ verewigt.

Pressburg, Prag, Wien, Steyr
Tomas Visek wurde 1934 in Pressburg geboren. Seine Jugend verbrachte er in Königgrätz, er arbeitete später in Prag und floh 1968 nach Österreich. Er lebt mit seiner Frau in Steyr, sie haben eine Tochter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2013)

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