Neisser: "Demokratiepaket von SPÖ und ÖVP völlig unzureichend"

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Nach dem Begehren brauche es ein neues Wahlrecht, sagt Ex-VP-Minister Neisser im "Presse"-Interview. Und ein ÖVP-Chef sollte nicht (Vize-)Kanzler sein.

Die Presse: Das Demokratie-Begehren hat sozusagen auch sich selbst zur Wahl gestellt: Es wollte Volksbegehren bzw. die direkte Demokratie aufwerten, ist aber gefloppt. Warum, glauben Sie?

Heinrich Neisser: Die Bürger sollten erstmals zu Grundfragen, die sie selbst betreffen, Stellung nehmen: zur Demokratie. Das Thema ist aber schwer anschaulich zu machen, das Volk war kaum zu motivieren.

Es gab einen Forderungskatalog vom neuen Wahlrecht über stärkere Volksbegehren bis zum Föderalismus und zu den Grundrechten . . .

Ja. Wahrscheinlich war das ein Problem, dass wir einen vollen Katalog präsentiert haben statt einfacher, pointierter Fragen.

Was ist nach dem Begehren Ihr wichtigster Punkt? Wie Ihre Mitstreiter wollen Sie ja weiter auf mehr Demokratie pochen.

Für mich als Vertreter der Initiative Mehrheitswahlrecht ist das ein personalisiertes Wahlrecht, das zum Großteil Einerwahlkreise vorsieht. Damit kämen Repräsentanten in eine engere Beziehung zur Wählerschaft. Sie müssten sich anders rechtfertigen und könnten sich nicht auf ihre Liste ausreden.

Wie bewerten Sie das geplante Demokratiepaket von SPÖ und ÖVP?

Das Paket ist höchstens ein Packerl und völlig unzureichend. Es bringt eine Verbesserung des Vorzugsstimmensystems, das ohnehin beschränkt wirksam ist. Die Schwellenwerte auf Regional- und Landesebene sinken zwar, und auf Bundesebene werden welche eingeführt. Aber die geplanten sieben Prozent - wie auf EU-Ebene - sind mir zu viel (zur Vorreihung von Kandidaten, Anm.). Man müsste niedrigere Prozentsätze überlegen.

Was vermissen Sie noch?

Wie in den 1980er-Jahren in der ÖVP hielte ich innerparteiliche Vorwahlen auch heute für sinnvoll. Der ÖVP brächten sie eine deutliche Erleichterung, das bündische Denken ist ja furchtbar. Dass sich nur Millionäre Vorwahlen leisten können oder Frauen untergehen, diese Risken haben sich nicht bestätigt.

Apropos Risiko: Können Sie das Argument von Kritikern des Volksbegehrens nachvollziehen, dass aufgewertete Begehren bzw. verpflichtende Volksabstimmungen die repräsentative Demokratie aushöhlen und am Ende eine kleine Minderheit die Mehrheit vor sich hertreiben würden?

Das eine soll das andere ja nicht ersetzen. Was mir gefällt: Volksbegehren sollen in eigenen Volksbegehren-Sitzungen im Nationalrat behandelt werden, in denen nur Volksbegehren behandelt werden. Abgeordnete können zwar weiter Begehren abschmettern, das neue Modell macht es ihnen aber schwerer, weil es Transparenz bringt.

Stichwort Wahlen: Früher haben Sie gesagt, die ÖVP, deren Klubchef Sie waren, könnte sich in der Opposition erneuern. Sehen Sie das heute noch so? Sollte die ÖVP in Opposition gehen?

Nicht automatisch. Ich glaube aber nach wie vor, dass Oppositionsphasen einer Partei gut tun. Dass die ÖVP zur Regierungspartei geboren sei, ist Schmonzes.

Nach der Nationalratswahl im Herbst dürfte es wieder eine Große Koalition geben.

Dann müsste sich die ÖVP dringend um ein neues, eigenes Bild kümmern. Sonst hat sie nichts Unverwechselbares mehr.

Welche Akzente müsste die ÖVP setzen?

Neue Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft etwa. Was christlich-sozial heißt, weiß ja heute keiner mehr in der ÖVP.

Auch nicht Parteichef Michael Spindelegger?

Nein. Christlich-sozial ist offenbar, wenn die Lehrer um den Erhalt der dienstfreien Stunden kämpfen. Was die ÖVP braucht, sind neue Parteibilder von der Bildung bis zur Wehrpflicht, wo es eigentlich hätte heißen müssen: Berufsheer. Diesen Prozess muss man in Gang setzten. Dann gewinnt man wieder Orientierung.

Ist Spindelegger der richtige Parteichef?

Für mehr Perspektive und Durchschlagskraft sollte die Funktion des Parteichefs von der des Regierungschefs getrennt werden. Darüber sollte Spindelegger nachdenken.

Bei einer Trennung: Sollte er eher Vizekanzler bzw. Kanzler sein? Oder eher Parteichef?

Spindelegger hat Redlichkeit und Bemühen. In der Regierung macht er das schon gut. 

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