Heiliger Zorn und kalte Berechnung

Turkey Prime Minister Tayyip Erdogan speaks during a conference in Ankara
Turkey Prime Minister Tayyip Erdogan speaks during a conference in AnkaraREUTERS
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Die Politik von Premierminister Erdoğan gibt den Türken Rätsel auf. Er setzt auf eine Doppelstrategie: Er treibt einen Spalt in die Gesellschaft, lässt sich jedoch eine Hintertür zu Demonstranten offen.

Istanbul. „Ist Recep Tayyip Erdoğan noch zu retten?“, fragten sich viele Türken während der Unruhen der vergangenen Wochen. Der Ministerpräsident beschimpfte die Demonstranten, verbreitete wilde Verschwörungstheorien und goss damit fleißig Öl ins Feuer. Anschließend legte er sich mit der EU an. Doch zwischendurch verhandelte er plötzlich mit Vertretern der Protestbewegung und nannte die demonstrierenden Umweltschützer „meine Brüder“. Warum? Die Antwort ist weniger im aufbrausenden Charakter des 59-Jährigen zu suchen als in seinem parteipolitisch dominierten Blick auf das Geschehen – und im Wahlkalender.

Erdoğan selbst gab in den vergangenen Tagen mehrere Hinweise darauf. Bei der wöchentlichen AKP-Fraktionssitzung berichtete der Premier, er habe Meinungsumfragen über die politische Zusammensetzung der Protestbewegung in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse machen deutlich, warum ihn die Forderungen der Protestbewegung so kalt lassen: Nur knapp mehr als ein Prozent der Besetzer des Istanbuler Gezi-Parks, des Epizentrums der Proteste, seien AKP-Wähler gewesen, sagte Erdoğan. Gut drei Viertel der Parkbesetzer waren demnach Wähler der säkularistischen Oppositionspartei CHP, weitere 16 Prozent Anhänger der Kurdenpartei BDP.

Mit anderen Worten: Die Leute, die auf den Straßen der Türkei demonstrierten, sind parteipolitisch für die religiös-konservative AKP und für Erdoğan größtenteils unerreichbar und damit uninteressant. Seine Strategie für die Kommunalwahlen im März und die Präsidentschaftswahl im Sommer kommenden Jahres läuft deshalb auf einen Lagerwahlkampf hinaus. Erdoğan will die AKP-Wähler und möglichst viele Nationalisten hinter sich haben. Und das tut er, indem er „seine“ Leute von Demonstranten, Parkbesetzern und „Plünderern“ abgrenzt – er bemüht sich gar nicht, Wähler aus dem anderen Lager zu überzeugen.

Umgeben von Jasagern

Die wahre Demokratie habe man bei den AKP-Massenveranstaltungen am vergangenen Wochenende in Ankara und Istanbul gesehen, sagte Erdoğan. Dabei hatte die Regierungspartei jeweils mehrere hunderttausend Menschen zusammengetrommelt, um Stärke zu zeigen. Erdoğan rief seine Wähler auf, der Protestbewegung an der Wahlurne eine Lektion zu erteilen. Der Premier will die Serie von Großveranstaltungen im ganzen Land fortsetzen.

Heftig wird darüber spekuliert, was Erdoğan antreibt. Kritiker sagen, der Premier sei nur noch von Jasagern umgeben und nach zehn Jahren an der Macht so abgehoben, dass sein Blick auf die Realität getrübt sei. Zumindest hat der von seinen Getreuen als „Usta“ (Meister) gepriesene Premier mit seiner harten Linie die Polarisierung im Land vertieft. Viele Intellektuelle, die in den vergangenen Jahren die Reformpolitik der AKP-Regierung gegen viel Kritik verteidigt haben, wenden sich von Erdoğan ab. „Tayyip Erdoğan hat verloren“, schrieb der Kolumnist Cengiz Çandar, der den Ministerpräsidenten selbst lange unterstützt hatte, in der Zeitung „Radikal“.

Doch den Premier scheint das Votum der Intellektuellen nicht zu stören. Wie so oft spielt er die Rolle des Opfers. Früher war er der Vertreter der islamisch-konservativen Türken, die von der kemalistischen Ideologie in ihrer Religionsfreiheit und anderen Grundrechten verletzt wurden. Heute gibt er den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten, der Versuche einer Minderheit abwehren muss, sich über den Willen der Mehrheit hinwegzusetzen. Die Demonstranten hätten ihre Anliegen zwar den ausländischen Medien erklären können, ätzte Erdoğan, aber nicht der türkischen Bevölkerung, bei der sie keinen nennenswerten Rückhalt hätten.

Nur wenn Erdoğan feststellen sollte, dass ihm die harte Linie nichts bringt, dürfte er wieder gemäßigtere Töne anschlagen. Entsprechend irritiert reagierten Erdoğans Berater, als eine Umfrage einen Absturz der AKP in der Wählergunst feststellte und nahelegte, dass 54 Prozent der Türken das Gefühl haben, von der Regierung in ihrem Privatleben eingeschränkt zu werden.

Sollte sich dieser Trend bestätigen, wird Erdoğan seine Wahlstrategie wahrscheinlich ändern. Immerhin hat er sich durch die Verhandlungen mit den Demonstranten ein Hintertürchen offengelassen. Ohnehin sollte der Premier etwas vorsichtiger sein, schrieb „Hürriyet Daily News“: Sein Nimbus der Unbesiegbarkeit habe gelitten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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