Russland. Mit der bevorstehenden Lagerhaft für Russlands Oppositionsstar, Alexej Nawalny, erreicht die neue Repressionswelle einen Höhepunkt.
EDUARD STEINER
Moskau. Wer keine Angst hat, hat Freiraum für Kreativität. Zum – tatsächlich zeitgleichen – Geburtstag von Franz Kafka gratulierte der russische Oppositionsstar Alexej Nawalny am Mittwoch seinem Richter, der eine zusätzliche wirtschaftliche Expertise im Prozess verweigerte und damit die Verteidigung abermals abblitzen ließ. Am gestrigen Freitag dann der Paukenschlag: Die Anklage fordert sechs Jahre Arbeitslager wegen Untreue. Wenn kein Wunder geschieht, geht Nawalny hinter Gittern. Zudem sieht der Strafantrag eine Geldstrafe von einer Million Rubel (23.201,86 Euro) vor.
Der Angeklagte wird beschuldigt, den staatlichen Forstbetrieb Kirowles zum Verkauf von 10.000 Kubikmeter Holz unter Marktpreis an eine eigene Firma gezwungen und um 400.000 Euro geprellt zu haben. Die Schadenssumme ist durch keine wirtschaftliche Expertise belegt. Zwei regionale Ermittlungen wurden wegen mangelnden Tatbestandes bereits eingestellt. Nun aber sind Nawalnys Tage gezählt. Damit hat die Repressionswelle, die als Reaktion auf die letztjährigen Massenproteste das Land überzieht, einen neuen Höhepunkt erreicht.
„Kafkas Prozess“ spielt in Kirow, einer Kleinstadt 900 Kilometer östlich von Moskau. Ex-Kremlchef Dmitri Medwedjew setzte dort vor einiger Zeit einen ausgewiesenen Liberalen als Gouverneur ein. Als Nawalny 2009 zu seinem Berater wurde, war er noch relativ unbekannt. Doch selbst in der Beraterfunktion hatte der Angeklagte laut Angaben der meisten Prozesszeugen nur wenige Vollmachten, sodass er das ihm angelastete Vergehen gar nicht hätte begehen können.
Der 37-Jährige ist in Russland nicht der Erste, der mittels eines dubiosen Gerichtsprozesses außer Gefecht gesetzt wird. Zuvor passierte dies bekanntermaßen Mitgliedern der Punk-Band Pussy Riot, ebenso Aktivisten der Massenproteste vom vergangenen Jahr. Auch Russlands Vorzeigeökonom, Sergej Guriev, der wegen einer nicht genehmen Expertise plötzlich Ermittler am Hals hatte. Nawalny aber ist der Prominenteste von ihnen. Er hat nicht nur die früheren Langzeitoppositionellen alt aussehen lassen, indem er neue Wege ging und als Minderheitsaktionär Beweise für Korruption in Staatsbetrieben sammelte. Er verdutzte mit seinem Furor und seinem Charisma auch die Machthaber.
Hass auf Korruption
Nawalnys Waffen sind sein juristisches Know-how und sein Sensorium für den Zeitgeist, der in Russland als Hass auf die wuchernde Korruption und als Phobie vor Immigranten daherkommt. Nawalny zeigte keine Berührungsängste mit beiden Themen und griff auch daneben, als er sich anfänglich nationalistischen Aufmärschen anschloss. Am Ende hegte er Ambitionen für das Präsidentenamt und das Bürgermeisteramt in Moskau.
Landet Nawalny hinter Gittern, so könnte das theoretisch als Initialzündung für eine neue Protestwelle dienen. Praktisch eher nicht, denn zum einen sitzt den Regimegegnern der Schock über die Repression in den Gliedern. Zum anderen heißt Sympathie für einen Dissidenten in Russland noch nicht, dass man für ihn auf die Straße geht. Eine andere Zukunft verbindet man in Russland nicht unbedingt mit einem Heißsporn wie Nawalny. Eher setzen Kreml-Gegner auf Palastrevolution oder gemäßigte Oppositionelle. Putin sitzt also weiter fest im Sattel.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2013)