Wo sich der „American Dream“ in einen Albtraum verkehrt hat

Detroits Bankrott zeichnete sich lange ab. Der Abstieg der „Motor City“ spiegelt den Niedergang der Schwerindustrie. Die Pleite ist indes Chance für einen Neubeginn.

Geborstene Fensterscheiben, zugemauerte oder mit Pressspanplatten abgedeckte Fenster, verfallene Wohnhäuser, wucherndes Unkraut, Unrat und verrostetes Gerät in den Vorgärten, leer stehende Lagerhallen und Fabriken, besprayt mit Graffiti und Wandmalereien. Einige der Slogans verraten schwarzen Humor: „Zombieland“ beschreibt prägnant die urbane Wüste auf beiden Seiten der Woodward Avenue, der Hauptschlagader Detroits.

Wer ein postapokalyptisches Szenario sucht, der wird in der „Motor City“ in Michigan rasch fündig. Tatsächlich kommen immer mehr Filmcrews aus Hollywood in die einst pulsierende Metropole an den großen Seen des Mittleren Westens, ins Herz der Autoindustrie – jene Stadt, die längst zur Metapher für den Rostgürtel der USA herabgesunken ist.

Der Bankrott Detroits bahnte sich seit Langem an, und dass er erst jetzt eingetreten ist, ist vielleicht noch das Überraschendste daran. Selbst ein vom Gouverneur eingesetzter Krisenmanager musste sich bald dem Unvermeidlichen fügen. Der Niedergang der Schwerindustrie, Bandenkriminalität, korrupte Bürgermeister und eine aufgeblähte, unfähige Stadtverwaltung haben im Lauf der vergangenen vier Jahrzehnte mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben.

„Motown“ singt den Blues, und es ist geradezu symbolhaft, dass das gleichnamige Plattenlabel, das den Soul der Sixties geprägt hat, just zu Beginn der 1970er-Jahre an die Westküste zog – und mit ihm all seine Stars, von Smokey Robinson über Diana Ross bis zum Jackson-Clan. Übrig blieben die Michigan Central Station, die gottverlassene, geschlossene Bahnhofskathedrale, und die Art-déco-Wolkenkratzer, die vom Glanz einer Stadt künden, in der zu Anfang des vorigen Jahrhunderts die ersten Autos vom Fließband rollten.

Bis hinein in die späten 1960er-Jahre, bis zum Ausbruch von Rassenunruhen, verströmte Detroit den Wohlklang von Fortschritt und industrieller Revolution, intoniert von Schriftstellern wie Jeffrey Eugenides („Middlesex“). Henry Ford schuf das Fundament für den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes zur Supermacht, die „Big Three“ der Autoindustrie zogen Heerscharen von Arbeitern und Afroamerikanern aus den Südstaaten an. Jahrelang galt das Diktum: „Was gut ist für GM (General Motors), ist gut für die USA.“ Detroit symbolisierte die Glücksverheißung des „American Dream“, den Traum vom Mittelstand: mit Straßenkreuzer, Haus samt Vorgarten und der Erwartung, die Kinder aufs College zu schicken. Ausgerechnet hier hat sich das Credo der Nation ins Gegenteil verkehrt, in einen Albtraum.


Nichts wäre verkehrter, als den schleichenden Niedergang des US-Imperiums zu proklamieren, von dem Untergangspropheten raunen. Gewiss: Die Vereinigten Staaten haben bessere Zeiten gesehen, und sie standen schon in einem helleren Licht. Es läuft gerade nicht sonderlich gut für den „großen Bruder“ jenseits des Atlantiks. Edward Snowdens Enthüllungen über die weltweiten Abhöraktivitäten haben Barack Obama und seine Regierung bis auf die Knochen blamiert, ihr Umgang mit Snowden hat ihr Gehabe und ihr Allmachtsgefühl bloßgestellt und zugleich auch dem Rechtsstaat Schrammen zugefügt. Und jetzt noch die größte Pleite einer US-Großstadt in der Geschichte.

Eine Insolvenz markiert nach US-Manier indes die Chance für einen Neubeginn. Detroit erlebte jüngst ein wundersames Comeback, als Washington 80Milliarden Dollar in die marode Autoindustrie pumpte. In einer Rosskur schrumpften sich GM und Chrysler gesund, sie sind gerüstet für den globalen Wettbewerb. Für die Stadt selbst sind die Vorzeichen freilich weniger günstig, denn der Staat kann nicht noch einmal mit einer Milliardenhilfe einspringen.

Das ist die bittere Wahrheit. Detroit muss sich neu erfinden – in einer abgespeckten Version: beispielsweise als Stadt der Kreativen, die in billigen Lofts ihre Träume verwirklichen, wie es sich als Trend bereits abzeichnet. Darin liegt eine Chance: Auferstanden aus Ruinen. Die Amerikaner sind Champions als Krisenmanager, vor allem im Kleinen. Als Zweckoptimisten lassen sie sich nicht so leicht unterkriegen, sie verfallen nicht in Wehklagen, sondern krempeln die Ärmel auf – das liegt quasi in ihrer DNA.

E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2013)

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