Der Rat der EU: Kein Ecofin ohne Coreper

Gremium der EU-Mitglieder. Minister entscheiden in zehn Untergruppen über Gesetzesvorlagen.

Brüssel. Rein strukturell betrachtet mag die Institution des Rats der Europäischen Union logisch erscheinen und sich makellos in den institutionellen Bauplan der EU einfügen. Auf der konzeptuellen Ebene schließt das Gremium die Lücke zwischen Kommission, Europaparlament auf der einen und den EU-Hauptstädten auf der anderen Seite – es ist ein „Fegefeuer“ zwischen Supranationalismus und nationalen Egoismen, um mit den Worten des niederländischen Philosophen Luuk van Middelaar zu sprechen. Demnach handelt es sich beim Rat um eine Zwischenzone, die mehr oder weniger beabsichtigt entstanden ist und zusehends an Statur gewonnen hat – und zwar als klar wurde, dass sich der von den Ahnvätern der EU erträumte unaufhaltsame Fortschritt in Richtung Vereinigter Staaten von Europa doch nicht so recht einstellen will.

Dass das Konzept des Rats immer wieder für Konfusion sorgt, liegt einerseits an seiner Janusköpfigkeit, anderseits aber daran, dass der Rat der EU nicht gleich dem Europäischen Rat ist. Während es sich beim Letzteren um das ritualisierte Treffen aller Staats- und Regierungschefs der Union – vulgo „EU-Gipfel“ – handelt, bei dem die größten politischen Weichen gestellt werden, ist Ersterer ein Gremium, in dem auf Ministerebene über Gesetzesvorschläge der EU-Kommission befunden wird. Gemeinsam mit dem Europaparlament (dessen Bedeutung im Lauf der vergangenen Jahre stets zugenommen hat) übt der Rat folglich die Rechtsetzung der EU aus.

Mysteriöse Fachausdrücke

Unübersichtlich wird die Sache aber auch dadurch, dass es insgesamt zehn nach Fachbereichen eingeteilte Ratsformationen gibt, die sich hinter so wohlklingenden Kürzeln wie EPSCO, Ecofin, Envi, GAC oder Agrifish verstecken. Das letzte Akronym ist immerhin leicht zu entziffern – es geht um Landwirtschaft und Fischerei –, bei den anderen handelt es sich (in umgekehrter Reihenfolge) um Allgemeine Angelegenheiten, Umwelt, Wirtschaft und Finanzen sowie Beschäftigung und Soziales. Überhaupt liefert der Rat einen wichtigen Beitrag zur europäischen Produktion von mysteriösen Fachausdrücken – von dort stammen etwa Coreper I und Coreper II sowie die allseits beliebten „A-Punkte“.

Beim näheren Hinsehen freilich entpuppen sich diese Geheimnisse als wenig spektakulär. Als A-Punkte beispielsweise werden jene Gesetzesvorhaben bzw. Themen bezeichnet, die im Vorfeld des Ministertreffens bereits fix und fertig ausverhandelt wurden und somit nicht mehr von den Ressortchefs erörtert werden müssen. Für diese Vorarbeiten zuständig sind die Ständigen Vertreter der EU-Mitglieder, die sich mindestens einmal in der Woche im Rahmen der Coreper-Sitzungen treffen – die Unterteilung I und II betrifft dabei die Zuständigkeitsbereiche der Diplomaten.

Doch zurück zu den Ratssitzungen. Für deren reibungslosen Ablauf zuständig ist erstens das im düsteren, 1995 eröffneten Bürokomplex Justus Lipsius (in dem übrigens auch die EU-Gipfel stattfinden) stationierte Ratssekretariat und zweitens jenes EU-Mitglied, das aktuell den Ratsvorsitz innehat – momentan hat Litauen diese Ehre, 2014 folgen Griechenland im ersten und Italien im zweiten Halbjahr. Das Vorsitzland übernimmt den Part des politischen Brückenbauers: Es gilt, möglichst viele möglichst gute Kompromisse zu schmieden, damit die Arbeit nicht zum Erliegen kommt. Denn bei wichtigen Themenbereichen wie etwa Steuer- oder Verteidigungspolitik herrscht im Rat das Prinzip der Einstimmigkeit, anders als beispielsweise in den Bereichen Umwelt oder Verkehr, in denen nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit entschieden wird – ein komplexer Schlüssel, der aus der Zahl der EU-Länder und -Bevölkerungen ermittelt wird. Mit dem Lissabon-Vertrag von 2009 wurde dieses System vereinfacht: Gemäß den 2014 in Kraft tretenden Regeln bedarf es der Ja-Stimmen von 55 Prozent der EU-Mitglieder, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, damit ein Beschluss angenommen wird.

Luxemburger Kompromiss

Wie so oft in Europa gibt es aber keine Regel ohne Ausnahme. In diesem Fall trägt sie die Bezeichnung „Luxemburger Kompromiss“ und besagt, dass ein Mitgliedsland nicht überstimmt werden darf, wenn es um seine „sehr wichtigen Interessen“ geht.

Diese Klausel wurde 1966 erdacht, um den französischen Widerstand gegen die Aufweichung des Einstimmigkeitsprinzips in der Agrarpolitik zu brechen. Der „Luxemburger Kompromiss“ wurde nie in den EU-Verträgen verankert, sondern ist ein Gewohnheitsrecht, das im Regelfall so viel bedeutet wie: „Weiterverhandeln, bis eine Lösung gefunden wird.“ Und genau dafür bietet der Rat mit all seinen Ritualen die geeignete Bühne. (la)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2013)

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