Wo alle Toten Helden sind

„Wir haben unsere patriotische Pflicht erfüllt“ – Wachablöse im Pantheon für die gefallenen Sowjetsoldaten auf dem Mamaj-Hügel.
„Wir haben unsere patriotische Pflicht erfüllt“ – Wachablöse im Pantheon für die gefallenen Sowjetsoldaten auf dem Mamaj-Hügel.Jutta Sommerbauer
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Im einstigen Stalingrad bestimmt das Gedenken an die Helden der Schlacht den Alltag. Eine Rückbenennung Wolgograds geht allerdings sogar den stolzen Bürgern zu weit.

Der Eingang ist eine unscheinbare Eisentür im Hof des Univermags, des Kaufhauses aus sozialistischer Zeit. Stufen führen in einen Keller hinunter, den ein paar Lampen nur spärlich ausleuchten. Am Ende des Gangs befindet sich ein Zimmer. Grün gestrichene Wände, ein Feldbett, ein Schreibtisch. Hinter dem Tisch, als wäre er soeben aufgesprungen, die Hände Halt suchend auf der Tischplatte, Generalfeldmarschall Friedrich Paulus. Blasser Teint. Erstarrte Mimik. Die Angst ins Gesicht geschrieben.

Menschenähnliche Puppen halten den Moment der Gefangennahme des Kommandanten der sechsten Armee in seinem letzten Versteck fest. Es war der 31. Jänner 1943. Fünf Tage hatten er und sein Stab in dem Keller verbracht. Am letzten Jännertag musste Paulus die Kapitulation unterschreiben, ein halbes Jahr nachdem die Deutschen die Stadt eingenommen hatten und danach darin eingeschlossen worden waren. Die Niederlage der Wehrmacht im Kessel von Stalingrad war ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg.

Unklarheit über Opferzahlen.
Nirgendwo liegen der Sieg der Sowjetarmee und die Vernichtung, der sowjetische Blutzoll, so nahe beieinander wie in Wolgograd, dem einstigen Stalingrad. Schätzungsweise 900.000 sowjetische Soldaten ließen hier ihr Leben. Genaue Zahlen fehlen bis heute. Von der Viertelmillion Wehrmachtssoldaten, die in die Industriestadt an der Wolga einzogen, lebten bei der Kapitulation noch 110.000. Nur 6000 kehrten aus den sowjetischen Gefangenenlagern zurück.

Bei den zivilen Opfern ist die Unklarheit noch größer: Vor der Einnahme der Stadt durch die Wehrmacht lebten 600.000 Bürger in der Stadt. Stalin, der mit seinem Befehl Nummer 227 „Keinen Schritt zurück“ seinem Volk den Kampf bis zum Letzten befahl, ließ die Bevölkerung nicht evakuieren. 40.000 starben im Bombenhagel der Wehrmacht, 300.000 wurden später weggebracht. Wie viele haben den Krieg nicht überlebt? „Die Zahl der zivilen Opfer ist nicht genau bekannt“, sagt Anna Klotschkowa, selbst gebürtige Wolgograderin, die Touristengruppen zu den monumentalen Denkmälern ihrer Heimatstadt führt.

Spätes Denkmal für Zivilisten. In der sowjetischen Geschichtserzählung mussten alle Toten Helden sein. Zivile Opfer oder gar Menschen, die keinen Heldentod sterben wollten, gab es offiziell nicht. Erst in den 1990er-Jahren wurde den getöteten Zivilisten von Stalingrad ein Denkmal gewidmet. Ansonsten trägt die Stadt heute noch immer stolz ihren in der Sowjetzeit verliehenen Titel Heldenstadt.

Die Vorzugsschüler Wolgograds halten Wache vor der ewigen Flamme auf dem Platz der gefallenen Kämpfer, Straßen heißen Heldenallee, sind nach der 62.Sowjetarmee und ihrem Oberbefehlshaber Marschall Tschuikow benannt. Während man in anderen russischen Städten orthodoxe Kirchen besichtigt, ist es hier die frühere Verteidigungslinie der Sowjets nahe des Wolga-Ufers. „Ja, wir waren einfache Sterbliche und wenige von uns haben überlebt. Aber wir haben unsere patriotische Pflicht vor der heiligen Mutterheimat erfüllt“, steht in Goldbuchstaben im Pantheon auf dem Mamaj-Hügel geschrieben. Darunter brennt das ewige Feuer, bewacht von zwei strammstehenden Gardesoldaten.

Die Stadt war noch nicht wieder aufgebaut, da wurde mit der Errichtung des riesigen Gedenkkomplexes begonnen, dessen letzte Station eine 8000 Tonnen schwere Frauenfigur aus Stahlbeton ist, die mit entschlossener Miene ein Schwert in die Luft hebt.

Anton Artamonow ist 27 Jahre alt und „Rekonstruktor“: er rekonstruiert keine Bilder, sondern die Schlacht um Stalingrad. Im historischen Soldatenkostüm tritt er vor Publikum auf, stellt gemeinsam mit anderen jungen Männern die Verhaftung von Paulus nach. Immer am Jahrestag, dem 31.Jänner. Der blonde, hochgewachsene junge Mann hat Wirtschaft studiert, sich aber für die Geschichte entschieden. „In Wolgograd kann man nicht anders, als sich mit Geschichte zu beschäftigen“, sagt er. Auch für Anton Artamonow ist Gedenken notwendigerweise Heldengedenken. „Unsere Ahnen haben die Stadt verteidigt“, sagt er. „So war es.“

An fünf Tagen im Jahr durfte sich Wolgograd in diesem Jahr wieder Stalingrad nennen. Es waren dies Feiertage, und der Anlass war das 70-Jahres-Jubiläum der Schlacht. Doch manchen Politikern geht das Heldengedenken nicht weit genug. Sie wollen der Stadt ihren früheren Namen, den sie von 1925 bis 1961 trug, zurückgeben. Aus der Stadt an der Wolga soll wieder Stalins Stadt werden. Anton ist dagegen. „Den Namen Stalingrad assoziiert man mit dem Krieg und der Schlacht. Diese spezifische Erinnerung muss bewahrt werden“, sagt er. Eine Umbenennung würde das entwerten.

Laut einer Umfrage des Moskauer Umfrageinstituts Lewada-Zentrum ist auch die Mehrheit der Befragten dagegen: 60 Prozent lehnten den Plan ab, nur knapp ein Fünftel war dafür. Die Verherrlichung des Namen Stalins ist nicht mehr mehrheitsfähig. „Damit kommt man immer vor den Wahlen“, sagt Anna Klotschkowa, die Touristenführerin. „Man macht Politik damit.“

Doch an der Geschichtserzählung vom ruhmreichen Heldentod will auch sie nicht zweifeln. „Die Menschen sind für Stalin gestorben. Sie haben an ihn geglaubt.“

Knochenfunde bis heute. Das Schlachtfeld von damals ist heute unter dem Erdboden verschwunden. Wolgograd ist eine moderne Stadt mit einem belebten Stadtzentrum, Hochhäuser reihen sich neben die Stalinbauten, der Stau gehört zum Alltag. In fünf Jahren soll Wolgograd einer der Austragungsorte der Fußballweltmeisterschaft sein. Auf den Baustellen und in den Gärten werden immer noch die Toten der Schlacht von vor 70 Jahren gefunden. Etwa 500 Skelette pro Jahr sind es. Nur in wenigen Fällen – etwa wenn eine Erkennungsmarke gefunden wird – lassen sich ihre Namen rekonstruieren. Die meisten bleiben namenlose Helden, namenlose Opfer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2013)

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