Ein Land vor der Zerreißprobe

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Ukraine. Das Parlament könnte Regierungschef Asarow zum Rücktritt auffordern, damit sich die aufgeheizte Lage wieder beruhigt. Die Opposition fordert weiter vorgezogene Neuwahlen.

Kiew/Wien. Der strengste Ordnungsruf des Tages kam aus dem russischsprachigen Süden. Das Parlament der Autonomen Republik Krim forderte die Regierung in Kiew auf, „alle verfügbaren Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung“ zu unternehmen – und wenn nötig den Ausnahmezustand auszurufen. Das Regionalparlament wird von der Regierungspartei Partei der Regionen dominiert, die in diesem Landesteil eine starke russlandfreundliche Ausprägung hat. Im Westen des Landes hingegen riefen die drei Gebiete Ternopil, Lwiw (Lemberg) und Iwano-Frankiwsk einen „friedlichen Aufstand“ aus. Die dortige Regionalpolitik, dominiert von prowestlichen, oppositionellen Kräften, solidarisierte sich mit den Demonstranten auf der Straße.

Zerrissen in einem Richtungsstreit präsentiert sich die Ukraine dieser Tage. Unschlüssig ihre Regierung. Mit öffentlichen Stellungnahmen, was man angesichts der anhaltenden Proteste gegen die Abkehr von der EU zu tun gedenke, hält man sich zurück. Präsident Viktor Janukowitsch, zu dessen Amtssitz im Zentrum und Residenz am Stadtrand von Kiew ein Teil der Demonstranten gestern vorrücken wollten, ist auf Tauchstation gegangen. Wo er sich derzeit aufhält, in seinem Büro oder in seiner Luxus-Datscha, verrät seine Kanzlei den Medien nicht. Der Staatschef soll morgen zu einer dreitägigen Visite nach China aufbrechen. Aus seinem Büro war zu hören, dass er trotz der explosiven Situation im Land an dem Besuchsprogramm festhalten wolle.

Kein „weißrussisches Szenario“

Nach dem Gewaltexzess am vergangenen Samstag, als die Polizei den Unabhängigkeitsplatz räumte, und den Zusammenstößen von Sonntagnacht, bei denen 165 Menschen verwundet wurden, schienen gestern beide Seiten einen Gang zurückzuschalten. Die Regierung setzt offenbar nicht auf ein „weißrussisches Szenario“, also eine komplette Räumung des Zentrums und Verfolgung der Opposition. Schon jetzt beschwören Experten die Gefahr eines Bürgerkrieges. „In der Ukraine ist ein weißrussisches Vorgehen nicht möglich. Das würde zum Bürgerkrieg führen“, sagt der Politikwissenschaftler Vladimir Fesenko zur regierungsnahen ukrainischen Tageszeitung „Heute“.

Die Proteste am Montag verliefen bis zum Nachmittag friedlich. Mehrere hundert Aktivisten hinderten Beamte des Ministerkabinetts daran, ihren Arbeitsplatz zu betreten. Die Opposition distanzierte sich indes von gewaltbereiten „Provokateuren“.

Mehrere Abtrünnige

Neben der anhaltenden Protestwelle ist für Präsident Janukowitsch die Kritik aus den eigenen Reihen besonders unangenehm. Mit dem Rücktritt des Leiters der Präsidialadministration, Sergej Ljowotschkin, ist ihm ein wichtiger Vertrauter abhandengekommen. Einige weitere Abgeordnete der Partei der Regionen haben ihren Austritt aus der Parlamentsfraktion und der Partei bekannt gegeben und als Grund das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten angegeben. Ob sich im Parlament dadurch tatsächlich eine nachhaltige Verschiebung der Kräfteverhältnisse ergibt, ist derzeit noch unklar. Es könnte sich in Teilen auch um politische Taktik und Erhöhung des Werts der eigenen Aktie handeln.

Wird Asarow abgesetzt?

Abgerückt von ihren Forderungen sind die proeuropäischen Anhänger des „Euromaidan“ nicht. Bei den gestrigen Kundgebungen – weitere sind für heute, Dienstag, angesetzt – forderte man weiterhin den Rücktritt des Präsidenten und vorgezogene Neuwahlen.

Möglicherweise könnte der Kopf des jetzigen Regierungschefs, Mykola Asarow, rollen. Asarow ist seit Jahren Janukowitschs Prügelknabe – und könnte geopfert werden, um die Lage zu beruhigen. Im Parlament empfahl ein Ausschuss den Abgeordneten gestern, bei der Sitzung am heutigen Dienstag für Asarows Ablösung zu stimmen.

Asarows Partei der Regionen zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass die Regierungsgegner nicht genügend Stimmen für eine Abwahl des Vertrauten von Präsident Viktor Janukowitsch sammeln werden. Spätestens bei der Abstimmung dürfte deutlich werden, wie es um das neue Kräfteverhältnis im Parlament bestellt ist. Interview S. 19

AUF EINEN BLICK

In der Ukraine gingen am Montag die Demonstrationen weiter. Aktivisten blockierten das Gebäude des Ministerrats und hinderten Beamte daran, zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen.

Am Dienstag könnte das Parlament über eine Abwahl von Premierminister Mykola Asarow entscheiden. Unklar ist, ob es dafür eine Mehrheit gibt. Präsident Janukowitsch soll heute zu einer dreitägigen China-Reise aufbrechen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2013)

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