Das direkt gewählte EU-Abgeordnetenhaus hat sich in den letzten 35 Jahren zu einem fast vollwertigen Parlament entwickelt.
Brüssel/Wien. Gefragt, wo ihre Arbeit größere Bedeutung hat – im österreichischen Nationalrat oder im Europaparlament –, geben heimische Abgeordnete, die beide Häuser kennen, meist die Funktion in der EU an. Der Grund ist einfach zu erklären: Im Nationalrat fühlen sich Abgeordnete wegen der eindeutigen Fronten zwischen Regierung und Opposition als Teil einer Abstimmungsmaschinerie, individuelle Meinungen zählen nicht viel. Obwohl das Europaparlament 751 Sitze (ab diesem Jahr) zählt, sind die Gestaltungsmöglichkeiten jedes einzelnen Abgeordneten deutlich vielfältiger. Jeder kann in den Fachausschüssen seine Position einbringen und oft dafür sorgen, dass diese in einen endgültigen Kompromiss Eingang findet.
Als die Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 gegründet wurde, hatte die damalige Gemeinsame Versammlung kaum Mitbestimmungsrechte. Erst mit der Einführung der Direktwahl der Abgeordneten 1979 wurde das Europaparlament zu einem politischen Faktor. In den letzten 35 Jahren erhielt es immer mehr Mitbestimmungsrechte und verfügt heute über eine Macht, die mit jener nationaler Parlamente durchaus vergleichbar ist. Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurde dem EU-Parlament ein Mitentscheidungsrecht bei Gesetzesverfahren eingeräumt. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde dieses Mitentscheidungsrecht auf fast alle politische Felder (Ausnahme Außenpolitik, Steuerpolitik) ausgeweitet.
Hier ein Überblick über die wichtigsten Mitbestimmungsrechte des Europaparlaments.
► Gesetzgebung. Das Europaparlament stimmt mittlerweile gleichberechtigt mit dem Rat der EU (Regierungsvertreter) über jedes neue EU-Gesetz ab. Es kann den von der EU-Kommission entwickelten Vorschlägen zustimmen, gemeinsam mit dem Rat der EU einen Kompromiss aushandeln oder solche Vorlagen – wie etwa bei der Saatgutverordnung – gänzlich zurückweisen. In den meisten Fällen werden Gesetzesinitiativen durch das Parlament abgeändert beziehungsweise verbessert. Als einziges direkt gewähltes Organ der EU orientieren sich die Abgeordneten vor allem an den Interessen der Bürger. Dem Europaparlament fehlt in der Gesetzgebung allerdings ein wesentliches Element: das Initiativrecht. Es kann Vorschläge für neues Recht nicht selbst einbringen, sondern benötigt dafür die EU-Kommission.
► Haushalt. Bei Beschlüssen zum EU-Haushalt hat das Europaparlament ebenfalls ein volles Mitbestimmungsrecht. Der mehrjährige Finanzrahmen der EU wird von den EU-Regierungsvertretern ausgehandelt, muss aber dann von den Europaabgeordneten genehmigt werden, die meist noch Änderungen durchsetzen. Ebenso gibt es ein Mitbestimmungsrecht beim jährlichen EU-Haushalt. Das Europaparlament kommt hier auch einer Kontrollfunktion nach, indem es die Haushaltsführung der EU-Kommission regelmäßig prüft und jährlich über eine Entlastung abstimmt. Bei der Beurteilung der Haushaltsführung hilft dem Parlament der Europäische Rechnungshof, der jährlich die korrekte Verwendung von EU-Geldern prüft.
► Personalentscheidungen. Das Europaparlament hat mittlerweile auch ein Mitbestimmungsrecht bei der Bestellung der EU-Kommission und ihres Präsidenten. Im Lissabon-Vertrag wird darauf hingewiesen, dass bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten auf das Ergebnis der vorangegangenen Europawahl Rücksicht genommen werden muss. Das bedeutet, dass von den Staats- und Regierungschefs kein Kommissionschef ausgewählt werden kann, für den es im EU-Parlament keine Mehrheit gibt. Die Abgeordneten stimmen letztlich über die gesamte Kommission ab. Bereits mehrfach haben sie diese Zustimmung verweigert und damit den Austausch einzelner Kommissionskandidaten durchgesetzt. Das Parlament kann zudem mit Zweidrittelmehrheit die gesamte Kommission absetzen. Bereits einmal, 1999, trat die Kommission zurück, nachdem deutlich wurde, dass die Abgeordneten wegen eines Korruptionsskandals ein solches Misstrauensvotum vorbereitet hatten.
► Vertragsänderungen. Der Einfluss der Europaabgeordneten auf die Weiterentwicklung der EU und ihrer Kompetenzen ist begrenzt. Die Entscheidungsmacht liegt hier bei den Staats- und Regierungschefs. Seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags kann das Parlament allerdings selbst Entwürfe für Vertragsänderungen vorlegen. Die formell eher geringe Mitsprache bedeutet aber in der Praxis nicht, dass sich die Staats- und Regierungschefs über das Parlament hinwegsetzen können. Sie können Vertragsänderungen entweder über einen Konvent organisieren, in den sie das Parlament einbinden müssen, oder sie benötigen einen Freibrief des Parlaments. Nur mit Zustimmung der Abgeordneten dürfen sie Vertragsänderungen über eine Regierungskonferenz durchführen.
► Erweiterung. Das Europaparlament entscheidet bei der Aufnahme neuer EU-Mitglieder gleichberechtigt mit den Vertretern der Mitgliedstaaten (Rat der EU). Es bereitet diese Entscheidung mit regelmäßigen Berichten zur Beitrittsreife vor. Bisher hat das Parlament allerdings noch keine EU-Erweiterung verhindert oder eine solche relevant verzögert.