Literatur

Roman über Psychoterror an Wiener Gymnasium gewinnt Deutschen Buchpreis

Erst der dritte Österreicher: Der 31-jährige Tonio Schachinger erhielt am Montag Abend zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den Preis für den meistbegehrten deutschsprachigen Buchpreis.
Erst der dritte Österreicher: Der 31-jährige Tonio Schachinger erhielt am Montag Abend zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den Preis für den meistbegehrten deutschsprachigen Buchpreis.APA / dpa / Arne Dedert
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Vom Theresianum zum Marianum: Der österreichische Autor Tonio Schachinger war Schüler an der Wiener Eliteschule, nun gewinnt er den populärsten deutschsprachigen Literaturpreis mit seinem Coming-of-Age-Roman „Echtzeitalter“ über einen Schüler, der vor einem sadistischen Lehrer ins Gaming flüchtet.

Diese Aufmerksamkeit wird in Österreich und vor allem in Wien nicht alle freuen: Der Deutsche Buchpreis geht an den 31-jährigen Tonio Schachinger – für einen Roman über ein reaktionäres Gymnasium in der Wiener Favoritenstraße mit sadistischem Klassenvorstand, der aussieht wie ein Lodenmäntel tragender Lord Voldemort. Und über einen rothaarigen Schüler namens Till, der sich vor dieser Welt des Drills, autoritärer Ungerechtigkeit und jugendlicher Rohheit ins Internet-Gaming flüchtet, in dem er zum Meister wird. Schachinger ist erst der dritte Österreicher, der diesen begehrten Preis erhalten hat – nach Arno Geiger im ersten Buchpreisjahr 2005 und Robert Menasse 2017.

Von der Argentinier- und Favoritenstraße ist da die Rede, von der „schönbrunnergelben Fassade und der abbröckelnden graugelben Rückseite“, vor allem aber von der hohen Mauer, die, wie der Erzähler meint, das Eigentliche an dieser Schule sei – auch wenn die an den Tagen der Offenen Tür hereindrängenden Schüler davon gar nichts bemerken, geblendet vom tollen Lernangebot und den Austauschreisen, von denen man ihnen erzählt. Und sie bemerken, so der Erzähler, auch nicht die Stelle, wo noch der Name des früheren Erziehungsleiters, gefolgt von den Worten „Du Kinderficker“, durchscheint. Hier, so lesen wir, versammeln sich die „Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade“, die das Besondere an Wien seien.

Dieses nach „Schlüsselroman“ Riechende ist dem öffentlichen Interesse an dem Roman natürlich auch nicht abträglich. Tonio Schachinger ist der Sohn eines österreichischen Diplomaten und einer mexikanisch-ecuadorianischen Künstlerin. Sein Debütroman „Nicht wie ihr“ über einen jungen österreichischen Topfußballer brachte ihn schon 2019 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. „Echtzeitalter“ führt nun witzig und feinfühlig in eine noch jüngere Welt. Es ist ein Coming-of-Age-Roman, der, obwohl er gegen alte Schultraditionen Sturm läuft, selbst einer alten Tradition folgt. In vielem liest er sich wie eine Neuerzählung von Friedrich Torbergs Roman „Der Schüler Gerber“, der 1930 erschien (eine Zeit, in der es wohl wirklich noch viele solcher Lehrer gab). Nur dass Gerber hier Till Kokorda heißt und aus dem schrecklichen Lehrer „Gott Kupfer“ Bruno Dolinar geworden ist. Auch an der Tradition der Österreich-Beschimpfung bedient sich Schachinger (Till liest natürlich Thomas Bernhard).

Einer der Weltbesten in „Age of Empires“

Nicht nur die Lehrer üben hier Gewalt aus, auch die Jugendlichen sind verroht. Während andere Drogen nehmen oder trinken, hilft dem 15-jährigen Till, der nicht zu den „Coolen“ gehört und in Sport versagt, die Parallelwelt von „Age of Empires“. Die wird im Roman auch ausführlich. Till wird einer der besten Spieler weltweit . Auch vor der familiären Tristesse flüchtet er, die Eltern haben sich scheiden lassen, der Vater ist gestorben, zur Mutter hat er ein schwieriges Verhältnis. Kaum einer weiß von seiner zweiten Existenz als Gaming-Genie, die ihn bis ins reale China führt. Irgendwann, wie nicht anders zu erwarten, führt dieses Doppelgängertum zur Katastrophe. Es gibt aber bei alledem auch schöne Erlebnisse, Verliebtsein an „proletarischen“ Orten wie Kagraner Platz oder Kaisermühlen.

In der diesjährigen Shortlist war auch der viel gepriesene Roman von Terézia Mora, „Muna oder die Hälfte des Lebens“: Dass er nicht preisgekrönt wurde, hat wohl damit zu tun, dass Mora den Preis schon einmal erhalten hat. Schachinger war der einzige Österreicher auf der Shortlist, fünf Österreicherinnen und Österreicher hatten es immerhin mit ihm auf die Longlist geschafft: Clemens J. Setz, Raphaela Edelbauer, Thomas Oláh, Teresa Präauer und Kathrin Röggla. Insgesamt werden 37.500 Euro vergeben: Der Sieger oder die Siegerin erhält 25.000 Euro, die übrigen Autoren der Shortlist jeweils 2500 Euro. Der Preis wird traditionell einen Tag vor Eröffnung der Frankfurter Buchmesse vergeben.

Deutscher Buchpreis

Die Preisträger bisher:

  • 2005 Arno Geiger: „Es geht uns gut“
  • 2006 Katharina Hacker: „Die Habenichtse“
  • 2007 Julia Franck: „Die Mittagsfrau“
  • 2008 Uwe Tellkamp: „Der Turm“
  • 2009 Kathrin Schmidt: „Du stirbst nicht“
  • 2010 Melinda Nadj Abonji: „Tauben fliegen auf“
  • 2011 Eugen Ruge: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“
  • 2012 Ursula Krechel: „Landgericht“
  • 2013 Terézia Mora: „Das Ungeheuer“
  • 2014 Lutz Seiler: „Kruso“
  • 2015 Frank Witzel: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“
  • 2016 Bodo Kirchhoff: „Widerfahrnis“
  • 2017 Robert Menasse: „Die Hauptstadt“
  • 2018 Inger-Maria Mahlke: „Archipel“
  • 2019 Saša Stanišić: „Herkunft“
  • 2020 Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“
  • 2021 Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“
  • 2022 Kim de l’Horizon: „Blutbuch“
  • 2023 Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

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