Interviews: Stimmen aus Taiwan

„Viele überlegen jetzt, ob sie auswandern sollen“

Selfie vor dem  101 Tower in Taipei, eines der bekanntesten Gebäude Taiwans.
Selfie vor dem 101 Tower in Taipei, eines der bekanntesten Gebäude Taiwans.Reuters/ Tyrone Siu
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Fünf Taiwanerinnen und Taiwaner erzählen über den Alltag im Schatten der Kriegsdrohungen Chinas, die Sorge um ihre Kinder, die Suche nach einem Plan B. Und sie schildern ihr Verhältnis zu China, was Taiwans Identität ausmacht und den Stolz auf ihre Demokratie.

„Wenn ein Krieg ausbricht, dann verstecken wir uns hier.“

Serena Lin
Serena LinSusanna Bastaroli

Serena Lin, 42, Dolmetscherin in Taipeh, Mutter von zwei Töchtern.

„Viele Leute sagen, dass wir Taiwaner an die Gefahr einer chinesischen Invasion gewöhnt sind, dass wir immer schon damit leben mussten. Doch für mich wurde diese Gefahr erst 2022 so richtig real, als Chinas Staatschef Xi Jinping seine Amtszeit verlängerte, seine Machtbasis zementierte. Im Freundeskreis reden wir seitdem viel darüber, was uns drohen könnte. 

Besonders schockiert war ich aber über ein Erlebnis im Sommer vor einigen Jahren. Ich war mit meinen Töchtern in Tainan im Urlaub, der Geburtsstadt meiner Mutter. Es war ein sonniger Tag, wir spielten erst im Wasser und pflückten dann Obst in einem Fruchtgarten, Mangos, Guava. Die Stimmung war friedlich, wir befanden uns mitten in der Natur. Und dann, ganz plötzlich, sagte meine Tochter, sie war damals in der dritten Volksschulklasse: „Wenn ein Krieg ausbricht, dann verstecken wir uns hier.“ Wir hatten gar nicht über Krieg gesprochen, das Thema vermeide ich. Dieser Satz meiner hat mich wirklich getroffen. Der zeigt, wie dominant diese Angst ist. Die Kinder beobachten alles, bekommen Stimmungen mit, auch wenn sie nicht darüber reden.

Das Thema Krieg beschäftigt meine Kinder sehr, das sehe ich. Sie interessieren sich dafür, was in der Ukraine passiert. Meine älteste Tochter, sie ist jetzt 13, liest das Tagebuch von Anne Frank. Aber ich versuche, positiv, optimistisch zu wirken, ich will sie nicht noch mehr verunsichern, ihnen noch mehr Angst machen. 

Die Generation meiner Töchter ist sehr patriotisch. Sie sehen Taiwan als ihr Heimatland an, bei Sportwettbewerben halten sie zu Taiwan, dann packen sie die Taiwan-Fahnen aus. Auch wenn es vielleicht nicht eine perfekte Fahne ist, ist es ihre Fahne. Sie werden in der Schule anders erzogen, als wir damals. Als ich in die Schule ging, haben wir gelernt, dass die chinesische Geschichte unsere Geschichte ist. Niemand sprach damals von Taiwan als selbständigem Staat. Das ist jetzt anders.

Ich habe also begonnen, sehr viel über ein Kriegsszenario nachzudenken. Mir im Detail auszumalen, was passieren würde, wenn China uns angreift. Wie das passieren könnte, sehr plastisch stelle ich mir das vor: Ich denke an die 14 „heißen Strände“, auf denen sie landen könnten. An den Guerilla-Krieg, der uns droht, wie der ablaufen könnte. Der Krieg in der Ukraine, die Lage in Hongkong machten diese Szenarien so real.

» Viele Freunde sagten: Die mit Kindern, die sollten sofort auswandern.«

Serena Lin

Ich fing an, mich mit meiner Familie zu beraten, ich sprach mit vielen anderen Eltern, was ihre Pläne seien. Viele Freunde sagten: Die mit Kindern, die sollten sofort auswandern. Ich habe das Gefühl, dass das immer Menschen hier wirklich tun. Eine gute Freundin von mir, die nie unter diesem Druck leben wollte, ist nach Amerika gezogen. Viele nehmen ihre Eltern mit.

Doch die älteren Generationen wollen nicht weg. Ich habe auch meine Eltern hier, sogar noch meine Großmutter. Mein Vater sagt, er will nicht in die USA, er würde lieber nach Japan auswandern. Aber er sagt, wir Jüngeren sollten Taiwan verlassen. Nicht so sehr wegen der Kriegsgefahr, sondern wegen der ständigen Unsicherheit, der Spannungen, er sagt, es sei nicht gut für Kinder, so aufzuwachsen. Meine Mutter ist Buddhistin, sie ist sehr gläubig. Sie meint, wir sollen uns nicht dauernd Sorgen machen über Dinge, die wir ohnehin nicht beeinflussen können.

Ich bin mir nicht sicher, was die richtige Entscheidung ist, was wir tun sollen. Aber ich habe dauernd das Gefühl, dass ich etwas unternehmen sollte. Ich wünsche mir für meine Kinder eine Zukunft in Sicherheit. Dann aber verdränge ich wieder die Angst. Dieses Hin und Her ist typisch, das erleben viele hier.

Manche würden also sagen, mit dieser ständigen Angst lebt man immer schon als Taiwaner, das ist Teil von uns. Ein guter Freund von mir hat zwei ältere Teenager-Söhne, die würden im Falle eines Krieges eingezogen werden. Dieser Freund hat einen sehr schwarzen Humor. Er sagte mir: „Falls sie in den Krieg müssen, hoffe ich, dass sie im nächsten Leben nicht mehr als Taiwaner wiedergeboren werden. Damit sie nie mehr diese Last, diese dauernde Angst, im Leben mit sich tragen müssen.“

„Wir sind anders als die Menschen in China“

Shaowei Wu und seine Freundin
Shaowei Wu und seine FreundinSusanna Bastaroli

Wu Shaowei, 32, Ingenieur aus Tainan (Südtaiwan)

„Ich versuche, mir keine Sorgen über den Krieg zu machen, nicht ständig daran zu denken. Wie soll man denn auch mit so einer Angst leben? Das geht gar nicht. Ich denke mir dann: Uns schützt das Meer.

Aber wenn ich Kinder hätte, und meine Freundin und ich wünschen uns ein Baby, würde ich einen Plan B in Erwägung ziehen. Dafür spare ich jetzt schon Geld. Es wäre gut, wenn das Baby in den USA geboren werden würde, dann hätte es einen US-Pass. Ich würde dann auch überlegen, auszuwandern, obwohl das hart wäre, alles zurückzulassen und in ein fremdes Land zu ziehen.

Wir sind anders als die Menschen in China. Wir sind Taiwaner, wir denken anders. Wir sind in Freiheit, in einer Demokratie aufgewachsen. In China kontrolliert die Partei alles, das wirkt sich auf die Einwohner aus. Ich selbst war dort, habe ein halbes Jahr in Peking studiert. Meine chinesischen Mitstudenten waren überrascht, als ich ihnen das sagte. Sie dachten, wir alle lieben China. Aber sie waren auch neugierig.

»Eine Wiedervereinigung mit China könnte ich mir nicht einmal dann vorstellen, wenn China ein demokratisches Land wäre. «

Wu Shaowei

Wir sind also ein unabhängiges, freies Land, das sollten wir auch offen sagen, wir sollten uns nicht davor fürchten. Wir sollten stolz auf uns sein. Und wir sollten wachsam sein, was Chinas Einfluss betrifft, eine zu starke Annäherung nicht zulassen. Ich glaube auch, dass die allermeisten Taiwaner das nicht wollen, vor allem die Jungen nicht. Vor etwa zehn Jahren demonstrierten viele jungen Menschen gegen eine zu großen Öffnung gegenüber China und setzten sich durch. Seitdem geht es unserem Land besser.

Eine Wiedervereinigung mit China könnte ich mir nicht einmal dann vorstellen, wenn China ein demokratisches Land wäre.

Ob ich den USA traue? Es ist wichtig für uns, dass die USA bereit sind, uns zu verteidigen. Ich glaube aber, man sollte sich nicht zu sehr auf andere Länder verlassen, wir sollten alles tun, um stark genug zu sein, uns selbst zu verteidigen

„Die Menschen auf Matsu sind die Kriegsgefahr gewohnt“

Pelli Shen in Matsu.
Pelli Shen in Matsu.Susanna Bastaroli

Pelli Shen, 25, Studentin, Touristenführerin und Chefin einer Pension. Sie lebt auf den kleinen Matsu-Inseln, die nur 20 Kilometer vor China liegen.

„Ich lebe seit 2016 auf den Matsu-Inseln, meine Mutter stammt von hier. Aufgewachsen bin ich aber in Taipeh, dort habe ich studiert. Es ist friedlich hier, auch wenn alle denken, wir leben in ständiger Angst vor einer Invasion. Die Menschen hier sind die Kriegsgefahr gewohnt, viele machen Witze. Andere sagen, vielleicht wollen die Chinesen uns gar nicht überfallen, vielleicht konzentrieren sie sich diesmal gleich auf die Hauptinsel Taiwan.

Insgesamt fühlen sich die Menschen hier als Außenseiter, sie sagen, die Regierung interessiere sich nicht für sie. Wir sind nur wichtig, wenn es um Krieg und Verteidigung geht.

»Das Verhältnis zu China ist irgendwie paradox, viele haben Verwandte, Freunde dort.«

Pelli Shen

Matsu ist wie ein Königreich für sich. Man denkt hier anders als auf der Hauptinsel. Das ist auch kein Wunder, wenn man jeden Tag Schussexplosionen hört von den Militärübungen. Anderseits gibt uns die Präsenz der Soldaten Sicherheit.

Das Verhältnis zu China ist irgendwie paradox, viele haben Verwandte, Freunde dort. Sie wollen keine Spannungen. Aber wenn man mich fragt, woher ich komme, dann sage ich immer: Ich bin eine Taiwanerin, die auf Matsu lebt.“

„Es gibt derzeit zu viele Spannungen mit China“

Liu Jinfa in Taipeh.
Liu Jinfa in Taipeh.Irina Nedeva

Liu Jinfa, 71, pensionierter Polizist aus Taipeh

„Ich werde bei der Wahl am 13. Jänner Hou wählen (Yu-ih Hou, der Ex-Polizeichef Kandidat der derzeit oppositionellen Kuomintang). Und nicht, weil Hou früher mein Chef war. Sondern weil ich ihm vertraue. Hou denkt nach, bevor er handelt.

Es gibt derzeit zu viele Spannungen mit China. Das ist gefährlich für uns. Und es ist schlecht für unsere Wirtschaft. Dieser Streit isoliert Taiwan. Wir müssen bessere Beziehungen zu China haben, das will Hou auch.

Wir Chinesen müssen einander doch helfen. Wir müssen unsere chinesische Weisheit einsetzen, um Krieg zu verhindern.“

„Ich glaube nicht, dass es zur Invasion Chinas kommt“

You Tianzen aus Matsu.
You Tianzen aus Matsu.Susanna Bastaroli

You Tianzen, 52, Fischer aus Matsu

„Früher habe ich den Fisch, den ich verkauft habe, selbst gefischt. Jetzt nicht mehr. Es gibt noch wenige Fische im Meer. Schuld ist der Klimawandel, aber nicht nur. Auch chinesische Fischer kommen in unsere Gewässer und stehlen unsere Fische.

Einmal war der Motor meines Bootes kaputt und ich musste das Boot in China reparieren lassen. Die Menschen dort haben mir geholfen. Ich finde, wir sollten alles tun, um uns gut zu verstehen, um eine gute Beziehung zu haben.

»So lange haben wir darauf gewartet, uns davor gefürchtet, aber es ist nichts passiert.«

You Tianzen

Ich glaube nicht, dass es zur Invasion Chinas kommt. Ich habe keine Angst. So lange haben wir darauf gewartet, uns davor gefürchtet, aber es ist nichts passiert.“

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