6. Sinfonie (Mahler)

Simon Rattle über Gustav Mahler

Sir Simon Rattle am Pult seines neuen Orchesters
Sir Simon Rattle am Pult seines neuen OrchestersAstrid Ackermann
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Der Dirigent vor seinem Gastspiel mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks über die Spieltradition seines Orchesters und einige Mahler-Geheimnisse.

Dass Sir Simon Rattle als zweites Programm für sein erstes Wien-Gastspiel mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (SOBR) eine Mahler-Symphonie ausgewählt hat (Sonntag, 15.30 Uhr, Musikverein), ist kein Zufall. Über die Bedeutung des Mahler-Zyklus, den der langjährige Chefdirigent Rafael Kubelík mit den Münchner Musikern für Schallplatten eingespielt hat, ist sich Nach-Nachfolger Rattle vollkommen im Klaren. Wie er sich überhaupt mit der Spieltradition und der Aufführungsgeschichte der Werke intensiv auseinandersetzt. Dass das SOBR nach wie „irgendwie Kubelíks Orchester“ geblieben ist, hat er im Porträt-Gespräch mit der „Presse am Sonntag“ angemerkt.

Was wollte Mahler wirklich?

Was die Sechste Mahler betrifft, weiß er auch um die von der Musikwissenschaft diskutierte Reihenfolge der Mittelsätze Bescheid: Für ihn steht außer Zweifel, dass der langsame Satz, das Andante, unmittelbar auf den Kopfsatz folgen muss. Also anders, als die Aufführungsgepflogenheiten der Zeit nach 1945, in der auch die ersten Aufnahmen der Symphonie entstanden sind, wahrhaben möchten: „Mahler selbst“, erzählt Rattle, „hat die Sechste nur drei Mal selbst dirigiert. Und immer stand bei diesen Aufführungen das Andante an zweiter Stelle“. Der Erstdruck der Partitur hat hingegen das Scherzo an die zweite Position gesetzt und noch mit Pierre Boulez ließ sich, so Rattle, trefflich darüber streiten, ob das nicht doch die sinnvollere Reihenfolge sein könnte.

„Ich habe übrigens auch mit dem Komponisten Berthold Goldschmidt darüber gesprochen“, sagt Rattle, „und er erinnert sich an die wenigen Aufführungen des Werks in der Zwischenkriegszeit, von denen er viele erlebt hatte und bei denen die Sätze immer so angeordnet waren wie unter Mahlers Leitung. Also anders als im Druck zuerst der langsame Satz, dann das Scherzo.“ Wer Mahlers Sechste im Zuge der Mahler-Renaissance kennengelernt hat, die spätestens in den Fünfzigerjahren ihren Anfang nahm, wird das Werk weder live noch auf Schallplatten kaum in einer anderen als der gedruckten Version kennengelernt haben. Prominente Ausnahme: Sir John Barbirolli ließ in seiner berühmten Einspielung mit dem Hallé Orchester das Andante auf Schallplattenseite 2 pressen und vereinigte Scherzo und Finale auf der zweiten der beiden Platten.

Der Bruch in der NS-Zeit

„Ich glaube solche Missverständnisse waren nur möglich, weil es einen radikalen Bruch in der Mahler-Tradition gegeben hat“, in der Ära des Nationalsozialismus waren die Werke des jüdischen Komponisten verboten und außerhalb des deutschen Sprachraums kaum bekannt. Andererseits weiß Simon Rattle auch genau, wie es zur Mahler-Renaissance kam und dass frühere Versuche, Mahlers Musik bekannt zu machen keineswegs so umfassend gelangen, wie man das später kolportier hat. –Anders als gern anekdotisch überliefert hat der erste komplette Mahler-Zyklus nicht unter Willem Mengelberg in Amsterdam stattgefunden: „Mengelberg hat unter anderem das Adagio aus der unvollendeten Zehnten damals nicht gespielt. Der erste Dirigent, der alle Symphonien in einer Konzertreihe präsentiert hat, war Maurice Abravanel mit dem Utah Symphony Orchestra,“ fasst Rattle seine diesbezüglichen Recherchen zusammen.

Was Europa betrifft, freut sich der Maestro, dass der erste europäische Mahler-Zyklus in seiner Heimatstadt Liverpool stattgefunden hat: „Das war verteilt über mehrere Spielzeiten und ich erinnere mich noch genau, wie es damals hieß: Zwei Mal pro Jahr treten wir den Kampf mit Mahler an. Diese Musik war den Orchestern unbekannt und ungeheuer schwer zu realisieren.“

Was man von den Altvordern lernen kann

Umso genauer studiert Rattle die erhaltenen Aufnahmen von Symphonien unter der Leitung von Dirigenten, die Mahler selbst noch gekannt und mit ihm gearbeitet haben. Dazu gehört neben den bekannten Größen, Bruno Walter und Otto Klemperer, eben auch der langjährige Concertgebouw-Chef Mengelberg, der berühmt war für höchst eigensinnige Interpretationen, deren Subjektivitäten in unseren Tagen kaum gutgeheißen werden.

Historische Tondokumente, wie etwa die legendäre Wiedergabe der Vierten Mahler unter Mengelberg, bewertet Rattle dennoch hoch: „Gewiss nimmt sich der Dirigent da allzu viele Freiheiten. Aber es sind auch Dinge zu hören, wo ich denke: Das ist einfach ideal! Anderes finde ich, zugegen, unmöglich. Aber es ist wichtig, Aufnahmen von Interpreten zu hören, die noch zu Lebzeiten der Komponisten groß geworden sind. Das gilt etwa auch für die Brahms-Aufnahmen eines Max Fiedler.“

Mahler-Lehrstunden in Prag

Auch wenn wir weit von jener Ära entfernt sind, lernt man aus solchen akustischen Begegnungen, vor allem einen Satz beherzigt Rattle: „Es gibt nicht den einen, den einzig richtigen Weg“. Insofern ist Sir Simon immer neugierig, was ihm internationale Orchester an klanglichen Eigenheiten „anzubieten“ haben. Und da der Komponist immerhin aus Böhmen stammte, waren für Rattle in Sachen Mahler auch und jene Erfahrungen wichtig, die er am Pult der Tschechischen Philharmonie sammeln durfte. Sie haben ihn sensibilisiert für die dortige Spieltradition: „Ich dachte damals, gegen dieses Prager Orchester sind die Wiener Philharmoniker ein modernes Ensemble. Und das, was man bei den Tschechen überliefert hat, sind vielleicht viel eher jene Klänge, die Mahler selbst gehört hat. Gewisse Akzentuierungen, Betonungen. Das war ja, um noch einmal darauf zurückzukommen, Rafael Kubelíks Erbteil“, vererbt wohl auch auf Kubelíks langjähriges Münchner Orchester, womit sich der Kreis für dessen neuen Chefdirigenten schließt: „Dazu gehört auch die Schönheit des Klangs, der zwar Charakter hat, auch Ecken und Kanten. Aber schöne Ecken und Kanten.“

Wie viele „Hammerschläge“?

Hie und da geht der Komponist allerdings mit seiner expressionistischen Musik an emotionale Grenzen – das Finale der Sechsten, in dem der imaginäre „Held“ des Werkes von drei Hammerschlägen regelrecht „gefällt“ wird, empfinden viele Hörer, aber auch Dirigenten als extrem belastend; nicht nur wegen der schieren Länge des Werks, sondern vor allem wegen dessen Aussage. Rattle kalmiert diesbezüglich ein wenig: „Wenn man der Musik genau zuhört, spürt man, daß sie immer wieder Anläufe nimmt, um ein positives Ende zu erreichen. Dieses tritt dann letztendlich nicht ein, aber man nimmt die Musik anders wahr, wenn man nicht von vornherein mit dem Bewusstsein eines unabweisbar tragischen Endes herangeht.“

Immerhin hat Mahler ja – wir sind wieder bei seiner eigenen Aufführungspraxis – den abschließenden dritten Hammerschlag irgendwann wieder aus seiner Partitur getilgt. Aber auch da sind sich die Editoren der Druckausgaben nicht einig: Sind es nun drei oder nur zwei Schläge mit dem Hammer, den sich jedes Orchester übrigens selbst konstruieren lassen muss – als ganz spezifisches Instrument der Schlagwerk-Gruppe, über das sich zu Mahlers Zeiten schon die Karikaturisten lustig gemacht haben. Man darf bei jeder Aufführung der Sechsten gespannt sein, wie sich der jeweilige Dirigent entscheidet...

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