Chefdiregent im Gespräch

Sir Simon Rattle und die Frage, wie man ein schweres Erbe verwaltet

Hat nichts von seinem jugendlich verschmitzten Charme verloren: Sir Simon Rattle in London, 2021
Hat nichts von seinem jugendlich verschmitzten Charme verloren: Sir Simon Rattle in London, 2021 Tolga Akmen
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Erstmals gastiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit seinem neuen Chef in Wien. Sir Simon Rattle im Gespräch über das „andere Deutschland“, das er soeben entdeckt.

„Es ist ein völlig anderes Deutschland“, sagt Simon Rattle auf die Frage nach seinen ersten Eindrücken, die er als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks sammeln durfte. An diesem Wochenende absolviert die neue Musikergemeinschaft ihr erstes gemeinsames Gastspiel im Wiener Musikverein. Mit einem „anderen Deutschland“ hat Rattle schon Erfahrungen gemacht: 16 Jahre lang war er Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Jetzt lernt er weiter südlich ganz andere Gefilde kennen. „Wissen Sie“, sagt er, „wenn man in Großbritannien aufwächst, dann denkt man, Deutschland? Das ist ein einheitliches Land. Wenn man dann aber von Berlin nach München kommt, begreift man, wie falsch man damit liegt.“ Und sogar die einzelnen Regionen innerhalb Bayerns, die Rattle mittlerweile kennenlernen durfte, seien von beeindruckender Vielfalt.

Der polyglotte Maestro mit der unverwechselbaren Mähne war zunächst einmal eine jugendliche Größe in seiner englischen Heimat. Als der ausgebildete Pianist und Schlagwerker aus Liverpool mit 19 Jahren einen Dirigentenwettbewerb gewann, wurde er zum Chefdirigenten in Bournemouth und war 1977 der jüngste Maestro, der je beim renommierten Glyndebourne Festival eine Oper dirigieren durfte. Und als er 1980 nach Assistenten-Jahren im heimatlichen Liverpool und beim schottischen Symphonieorchester der BBC zum künstlerischen Leiter des City of Birmingham Orchestra wurde, staunte bald die Welt. Die ersten CD-Aufnahmen, die dort entstanden, verrieten den internationalen Musikfreunden ein Geheimnis: Es gab in Birmingham ein Orchester!

Bevor Rattle dessen Leitung übernommen hatte, wusste das kein Mensch. Der quirlige Dirigent, der bis heute nichts von seinem jugendlich verschmitzten Charme verloren hat, erwies sich als wahrer Verführer: Das Orchester erlebte dank seiner energischen Arbeit einen eminenten Qualitätsschub; und das Publikum liebte ihn, dank seiner vereinnahmenden Persönlichkeit, die auch scheinbar schwer verdauliche Kost schmackhaft zu machen wusste. Rattle warb für Mozart ebenso wie für Strawinsky.

Kein Posten in Wien

Bald buhlten berühmtere Klangkörper um ihn. Die Wiener Philharmoniker machten viel beachtete Aufnahmen mit dem Newcomer, haben aber bekanntlich keinen Dirigentenposten zu vergeben. So griff die Konkurrenz zu. 1999 wurde Rattle Claudio Abbados Nachfolger als Chef der Berliner Philharmoniker. Und signalisierte mit etlichen programmatischen Projekten eine Öffnung des Traditionsorchesters. Nach einer Periode als Leiter des London Symphony Orchestra ist Rattle nun wieder in Deutschland gelandet. Wobei dort im Ranking unter Kennern das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks oft auf Platz zwei hinter den Berliner Philharmonikern gereiht wird.

Für Rattle sind seine neuen Partner jedenfalls auch „eine unglaublich sensible Gruppe von Menschen“, wenn auch die Mentalitätsunterschiede zwischen Berlin und München auch musikalisch offenkundig sind. Was freilich vor allem mit der jeweiligen Orchester-Historie zu tun hat: „Denken wir doch nur, welche Persönlichkeiten dahinterstehen“, philosophiert Rattle und beschwört die künstlerische Vergangenheit der beiden Orchester: „Kann es einen größeren Unterschied geben als den zwischen Herbert von Karajan und Rafael Kubelik?“ Die rhetorische Frage verweist auf den Musizierstil der beiden prägenden Maestri der Berliner Philharmoniker beziehungsweise des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks.

Wobei die Münchner Musiker und Kubelik im Leben des jungen Simon Rattle eine entscheidende Rolle gespielt haben: „Es war eine Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie in Liverpool, die mein Leben verändert hat – gespielt vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Rafael Kubelik.“ Die waren damals auf Gastspielreise. „Ich hatte zuvor nie eine so harmonische Partnerschaft zwischen einem Orchester und einem Dirigenten erlebt. Dann habe ich so oft wie möglich versucht, Kubelik bei der Probenarbeit zu erleben. Da hätte ich mir nie träumen lassen, einmal selbst dieses Orchester dirigieren zu dürfen.“

Der genetische Code eines Orchesters

Ein Orchester, dem man die langjährige Zusammenarbeit mit Kubelik immer noch anhören kann, wie Rattle meint: „Als ich das erste Mal vor diesem Orchester stehen durfte – das ist jetzt mehr als ein Jahrzehnt her –, da waren noch drei Musiker aktiv, die damals in Liverpool dabei waren. Und bis heute ist es irgendwie Kubeliks Orchester. So wie ja auch, sagen wir, das Orchester in Cleveland immer noch irgendwie Georgs Szells Orchester ist. Es gibt da so etwas wie einen genetischen Code“, sagt Rattle, und die Freude über sein Münchner Engagement mischt sich ein wenig mit Wehmut: „Wir haben ja geglaubt, dass wir noch viele schöne Jahre mit Mariss Jansons erleben werden“, mit einem Kollegen, dem er sich tief verbunden fühlte.

Im Bewusstsein der Dynamik des Gebens und Nehmens, die zwischen jedem Orchester und seinem Chefdirigenten herrscht, ist sich Rattle auch der Tatsache bewusst, dass man ihn in München, wie er das formuliert, „nicht engagiert hat, weil ich so normal bin“. Als „a little bit strange“ charakterisiert er sich selbst – und das ist es wohl, was Musiker an ihm ebenso lieben wie das Publikum: Man ist vor Überraschungen nie sicher.

Zur Person

Die Stationen: 1974 wurde Sir Simon Rattle Chefdirigent in Bournemouth, 1977 Assistent bei BBC Scottish Symphony und Royal Liverpool Philharmonic, 1980 Chefdirigent in Birmingham, 2002 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, ab 2017 bei London Symphony, seit Herbst 2023 beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Wiener Musikverein: Sonntag, 15.30 Uhr: Gustav Mahlers Sechste Symphonie

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