Gastkommentar

Wie könnte Gerechtigkeit für die Ukraine aussehen?

(c) Peter Kufner.
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Können Russland und Putin völkerstrafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden?

Während in der Ukraine nach wie vor die Waffen sprechen, nimmt der Kampf für Gerechtigkeit auf internationaler Ebene immer mehr Momentum auf. Bei einer Konferenz zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit für die Ukraine, die am 2. April in Den Haag abgehalten wurde, bekannten sich 44 Staaten dazu, Russland für den Angriffskrieg gegen die Ukraine zur Rechenschaft zu ziehen. Das Gewicht dieser Bestrebungen ist nicht zu unterschätzen, denn sollten die russischen Verbrechen ungeahndet bleiben, wäre neben der Ukraine ein weiteres Opfer zu beklagen, und zwar kein geringeres als die bestehende Völkerrechtsordnung.

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Obwohl der Kreml an der Behauptung festhält, dass Russland keinen Krieg gegen die Ukraine führe und es sich lediglich um eine zulässige „militärische Spezialoperation“ handle, ist es im Westen weitgehend unumstritten, dass ­Putin ein brutales Aggressionsverbrechen begeht, das einem Anschlag auf das Völkerrecht in seinem Kern gleichzusetzen ist. Mit der weitreichenden Invasion und Besetzung des ukrainischen Territoriums verstößt Russland gegen die zentrale Norm des bestehenden Völkerrechts – das in der UN-Charta verankerte Gewaltverbot.

Tatbestand der Aggression

Angesichts der extensiven Zerstörung von militärischer und ziviler Infrastruktur, den damit verbundenen Opfern und über sechs Millionen Flüchtlingen ist nicht nur der Tatbestand der Aggression erfüllt, sondern kann zugleich auch vom Vorliegen zahlreicher Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgegangen werden. Nicht zu Unrecht wird der Aggressionskrieg als das schwerwiegendste der internationalen Verbrechen bezeichnet, weil es einen Nährboden für alle anderen Völkerrechtsverbrechen schaffen kann.

Mit dreisten Lügen versuchen Putin und sein Propagandaregime den brutalen Angriff, dem ganz offensichtlich imperialistische Bestrebungen zugrundeliegen, als völkerrechtlich legitime „militärische Spezialoperation“ darzustellen. Dabei macht Putin nicht einmal davor halt, den islamistischen Terroranschlag auf eine Moskauer Konzerthalle am 22. März zur Rechtfertigung seines Kriegs zu instrumentalisieren, indem er der Ukraine eine Beteiligung an dem Anschlag unterstellt. Im völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrecht, das zu einer Gewaltanwendung in unmittelbarer Reaktion auf einen bewaffneten Angriff berechtigt, finden diese Anschuldigungen genauso wenig Halt wie das Argument einer angeblichen Gefahr für Russland durch eine drohende Nato-Osterweiterung, da weder der Nato noch der Ukraine ein bewaffneter Angriff gegen Russland angelastet werden kann.

Auch für einen laut Putin durch die Ukraine verübten Genozid an der Bevölkerung des Donbass, der zu einer völkerrechtlich ohnehin umstrittenen humanitären Intervention berechtigen könnte, gibt es keinerlei glaubhafte Beweise. Dass Putin mit seiner Propaganda gewisse Erfolge erzielt, ändert nichts an der Tatsache, dass seine Rechtfertigungsversuche aus völkerstrafrechtlicher Sicht zahnlos sind und einer gerichtlichen Ahndung des russischen Aggressionsverbrechens in keiner Weise im Weg stehen.

Wie also könnte Gerechtigkeit für die Ukraine aussehen? Nach Artikel 8bis Absatz 1 des Statuts des 2002 gegründeten Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag bedeutet das Verbrechen der Aggression „die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staats zu kontrollieren oder zu lenken“. Die Besonderheit der Aggression ist also, dass es sich um ein Führungsverbrechen handelt, das über die Staatenverantwortlichkeit hinaus vor allem darauf abzielt, Täter aus der politischen und militärischen Führungs­riege zur Rechenschaft zu ziehen.

Verurteilung Putins möglich

Eine Verurteilung Putins sowie anderer Drahtzieher wäre nach dem Tatbestand des Aggressionsverbrechens in der Theorie durchaus möglich, wäre da nicht das Problem der eingeschränkten Gerichtsbarkeit des IStGH. Dieser hat nämlich bei Verbrechen der Aggression, die Nichtvertragsstaaten wie Russland und die Ukraine betreffen, nur dann eine Urteilsbefugnis, wenn der UN-Sicherheitsrat ihn für zuständig erklärt, was angesichts der Vetomacht Russlands de facto ausgeschlossen ist.

Vor dem 1945 gegründeten Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag können wiederum nur Staaten, nicht aber Individuen, belangt werden. Am ehesten könnte eine Verurteilung vor einem eigens errichteten Sondertribunal nach dem Vorbild des Militärgerichtshofs von Nürnberg gelingen.

Internationale Organisationen wie der Europarat und die EU-Kommission sowie auch eine beachtliche Anzahl an Staaten, allen voran die Ukraine, haben sich für einen derartigen Ad-hoc-Gerichtshof ausgesprochen. Allerdings könnte hierbei die Immunität hochrangiger Staatsfunktionäre, die lediglich vor internationalen Gerichten entfällt, zum Problem werden.

Eklatante Lücken

Im Hinblick auf das Verbrechen der Aggression weist das Völkerrecht also eklatante Lücken auf, die wohl nicht so einfach geschlossen werden können. Die internationale Strafjustiz zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit deshalb zur Gänze abzuschreiben wäre angesichts der beispiellosen Anstrengungen, die Aufarbeitung der russischen Völkerrechtsverbrechen noch vor Beendigung des Konflikts in die Wege zu leiten, jedoch verfrüht. Denn immerhin konnte der IStGH auf Basis einer Ad-hoc-Unterwerfung der Ukraine im Zuge der Annexion der Krim im Jahr 2014 schon kurz nach Kriegsbeginn Ermittlungen über von Russland begangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufnehmen, da ungleich der Aggression für diese Tatbestände eine Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch eine der Konfliktparteien ausreichend ist. In diesem Zusammenhang hat das Gericht bereits vier Haftbefehle, darunter einen gegen Putin, erlassen.

Auch in einem vor dem IGH anhängigen Verfahren, das von der Ukraine beantragt wurde, konnte bereits eine einstweilige Verfügung erwirkt werden, die einen sofortigen Rückzug Russlands anordnet. Gleichzeitig dürfen die Möglichkeiten der internationalen Strafjustiz nicht überschätzt werden, denn eine tatsächliche Vollstreckung ergangener Urteile einschließlich der Leistung von Reparationszahlungen ist letztendlich stark vom Ausgang des Kriegs abhängig.

Das Potenzial des derzeitigen Völkerstrafrechts liegt hinsichtlich der russischen Verbrechen wohl weniger im unmittelbaren Schutz und in der Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die der Ukraine und seiner Bevölkerung zustehen, sondern vielmehr in der Verteidigung der bestehenden Völkerrechtsordnung und insbesondere der Bewahrung der Autorität des völkerrechtlichen Gewaltverbots.

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Die Autorin:

Jana Elisabeth Eicher (*2001) ist Jus-Studentin an der Universität Wien und Mitglied des „Jungen Teams“ des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte (www.humanrights.at). Der Kommentar basiert auf einer von ihr verfassten Diplomseminararbeit.

(c) Beigestellt.

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