Grubenunglück in der Türkei: Mehr als 90 Bergarbeiter befreit

Verzweifelte Bergleute
Verzweifelte BergleuteEPA/TOLGA BOZOGLU
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Die Hoffnung, weitere Überlebende zu finden, schwindet. Mehr als 230 Menschen kamen durch die Explosion unter Tage ums Leben. Sicherheitsvorschriften sollen ignoriert worden sein. In Ankara kam es zu Ausschreitungen.

Nach dem Grubenunglück in Soma in der Westtürkei haben die Bergungsmannschaften weitere Tote aus dem Kohlebergwerk herausgeholt. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Mittwoch bei einem Besuch am Unglücksort, die Zahl der Toten habe sich auf 238 erhöht. 120 Bergleute seien vermutlich noch unter Tage eingeschlossen.

Zuvor hatte Energieminister Taner Yildiz erklärt, in der Kohlegrube in Soma hätten sich zum Zeitpunkt der Explosion 787 Bergarbeiter aufgehalten. Es sei gerade Schichtwechsel gewesen, daher sei die Zahl so hoch.

Die Rettungskräfte haben vorerst mehr als 90 Menschen aus der Grube befreit. 85 von ihnen wurden verletzt. Bergarbeiter sagten, unter Tage brenne es noch immer. Über dem Bergwerk standen dichte Rauchwolken. Viele der geborgenen Toten seien erstickt

Umspannwerk explodiert

In Soma regierten Schock und Trauer - und bei einigen macht sich schon Wut auf die Behörden breit. Die Grube in Soma ist einer der größten Arbeitgeber der Region in der Provinz Manisa. Rund 6500 Kumpel arbeiten hier. Beim Schichtwechsel am Dienstagnachmittag befanden sich mehrere hundert von ihnen in der Grube, als rund 400 Meter unter Tage ein Umspannwerk explodiert und in Brand geriet. Der Strom in der Grube fiel aus, die Aufzüge und die Luftzufuhr für die Arbeiter funktionierten nicht mehr.

Im ganzen Land und an den türkischen Vertretungen im Ausland werden am Mittwoch die Flaggen auf Halbmast gesetzt, teilte das Büro von Premierminister Recep Tayyip Erdogan mit. Eine dreitägige Staatstrauer wurde ausgerufen.

Proteste in Ankara, Erdogan an der Unglücksstelle

Bei Protesten nach dem Unglück hat die Polizei in Ankara am Mittwoch Tränengas und Wasserwerfer gegen hunderte Demonstranten eingesetzt. Etwa 800 Demonstranten warfen Steine auf die Beamten und riefen regierungsfeindliche Parolen, wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP berichtete.

Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan traf unterdessen an der Unglücksstelle in Soma ein, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu will nach Soma reisen.

Monoxid-Vergiftung, der "süße Tod"?

Ein Kühlhaus, in dem sonst Lebensmittel gelagert werden, diente als Leichenhalle. Auch in Kühllastern lagen Tote. Das Krankenhaus der Stadt war überfüllt. Tausende Angehörige und Kollegen drängten sich vor dem Gebäude und hofften auf Nachrichten. Sicherheitskräfte riegelten den Eingang zur Grube ab, damit die verzweifelten Familien und Kumpel nicht die Rettungsarbeiten behinderten.

Vor dem Eingang zum Bergwerk und vor dem Kreiskrankenhaus von Soma liefen in der Nacht auf Mittwoch die Verwandten der Eingeschlossenen zusammen und versuchten verzweifelt, Neuigkeiten über ihre Väter und Söhne zu erfahren. "Seit dem frühen Nachmittag warte ich nun schon," sagt Sena Isbiler, die Mutter eines Bergarbeiters, die vor der Grube versuchte, über die Köpfe der anderen Wartenden hinweg einen Blick auf die Glücklichen zu erhaschen, die erschöpft und mit rußgeschwärzten Gesichtern aus dem Bergwerk geführt werden. Isbiler muss weiter bangen. "Bisher habe ich noch nichts gehört."

Die Behörden schickten vier Rettungsteams in die Grube, die versuchen, den Brand unter Tage zu löschen und die eingeschlossenen Bergarbeiter mit Frischluft zu versorgen. Das ganze Land fieberte mit und hofft auf gute Nachrichten. Im Fernsehen sorgte ein Experte für wütende Reaktionen der Zuschauer, als er die Folgen einer Monoxid-Vergiftung unter Tage als "süßen Tod" bezeichnet, bei dem der Betroffene keinerlei Schmerzen spüre.

Reuters

"Die Zeit läuft gegen uns"

"Die Zeit läuft gegen uns", sagte der Energieminister in der Nacht am Grubeneingang, als die verletzten Überlebenden ins Freie gebracht wurden. Tod durch Erstickung ist die größte Gefahr, sagt der Bergbau-Professor Vedat Didari von der Bülent-Ecevit-Universität im türkischen Kohlerevier in Zonguldak am Schwarzen Meer. "Wenn die Frischluftventilatoren an der Decke ausfallen, können die Arbeiter innerhalb einer Stunde sterben."

Noch während die Rettungsarbeiten im vollen Gange waren, begann die Debatte über die Gründe für das Unglück. Behörden und Grubenleitung sprechen von einem tragischen Unfall und betonen, das privat betriebene Bergwerk sei erst kürzlich kontrolliert worden. Doch angesichts der häufigen Unglücke in türkischen Gruben sind die Zweifel groß. "Es gibt hier keine Sicherheit", sagt etwa der Arbeiter Oktay Berrin in Soma. "Die Gewerkschaften sind nur Marionetten, und die Geschäftsleitung denkt nur ans Geld."

Reuters

Sicherheitsvorkehrungen ignoriert

Kilicdaroglus Oppositionspartei CHP war erst vor wenigen Wochen im Parlament von Ankara mit dem Versuch gescheitert, Zwischenfälle in der Grube von Soma untersuchen zu lassen: Erdogans Regierungspartei AKP bügelte den Antrag ab. Kritiker werfen der Regierung vor, bei der Privatisierung vieler ehemals staatlicher Bergbaufirmen in den vergangenen Jahren die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen ignoriert zu haben.

Für den linken Gewerkschaftsbund DISK ist das Unglück von Soma deshalb ein "Massaker", wie der Vorsitzende Kani Beko sagt. In Gruben wie in der von Soma seien ganze Ketten von Subunternehmern am Werk, die nicht vernünftig kontrolliert würden. Sicherheitsvorschriften würden außer Acht gelassen: "Es geht nur um den Gewinn."

Das bisher schwerste Grubenunglück in der Türkei ereignete sich 1992 in der Provinz Zonguldak am Schwarzen Meer. Damals kamen durch eine Gasexplosion 263 Arbeiter ums Leben. In derselben Region wurden im Mai 2010 bei einer weiteren Gasexplosion 30 Bergleute getötet.

(APA/AFP)

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